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Am Vormittag des Freitags, an dem Joel immernoch von der Schule freigestellt ist, geht der Brillenträger ins Krankenhaus. Sein Vater war seit 2 Tagen nicht mehr zu Hause und muss dort ein paar Dinge erledigen. In dieser Zeit können Alva und Joel ihn besuchen. Ihre Schwestern werden am Wochenende in Begleitung ihres Vaters gehen, da sie alleine noch nicht alt genug sind. Allerdings will Alva erst einkaufen gehen, also ist Joel allein im Krankenhaus und wartet auf eine Schwester, die ihm sagen kann, wo seine Mutter ist. 

„Entschuldigung", spricht er eine Frau mittleren Alters an, die einen blauen Schwesteranzug trägt, „Wo finde ich Sabine Lucas?". Kurz schaut die Schwester auf ihren Notizblock. „2. Stock, Stroke Unit. Zimmer 38", meint sie nur zu ihm und verschwindet dann schnell hinter einer weißen Wand.

Nach einigen Minuten des Suchens hat Joel endlich die richtige Station erreicht. Allerdings sind alle Zimmer nach der Nummer 30 in einem privaten Bereich, zu dem man einen Schlüssel braucht. 

‚Offenbar die Intensivpatienten', denkt sich Joel im Stillen. Er sieht sich nach einer Art Rezeption um und sieht eine kleine Nische, in der tatsächlich eine Rezeption ist. 

„Entschuldigung", spricht er den Mann an, der dort sitzt und etwas in den Computer eintippt. „Ich möchte zu Sabine Lucas. Ich bin ihr Sohn", bringt Joel seinen Wunsch an und der Mann sieht auf. 

„Können sie sich ausweisen? Sie liegt auf der Intensivstation, ich werde dann mit ihnen kommen", meint er und Joel kramt nervös in seiner Tasche. Seit knapp 2 Jahren läuft das mit dem ausweisen manchmal nicht so gut. Er legt 2 Karten auf den Tresen. Der Mann nimmt eine - seinen richtigen Ausweis - in die Hand und gleicht ihn ab. 

„Du heißt also Mathilda?", fragt der Pfleger mit Unglauben in der Stimme. Joel zuckt bei dem Namen zusammen. Wieder einmal merkt er, dass er nicht passt, dass er sich falsch anfühlt für ihn. 

„Nicht mehr. Ich heiße Joel", klärt der Brillenträger den Mann hinterm Tresen auf und schiebt nachdrücklich die andere Karte in seine Richtung. Endlich schaut er sich auch seinen Ergänzungsausweis an. Joel ist erleichtert, als der Mann das ok gibt und sie zusammen zu den Intensivzimmern gehen können. John, wie es auf dem kleinen Namensetikett steht, schließt die Tür auf, desinfiziert sich die Hände und läuft dann zu Zimmer 38, das auch Joel vorhin schon genannt worden war. Auch der Brünette hat sich die Hände desinfiziert und ist nun bereit seine Mutter wieder zu sehen. 

Der Pfleger drückt die Tür auf und Joel betritt den lichtdurchfluteten Raum flink. Er sieht seine Mutter bleich unter weißen Lacken gehüllt, auf dem Bett liegen und es zieht ihm das Herz in der Brust zusammen. Seine Mutter ist sonst so voller Leben, setzt ihr Leben für ihre Kinder ein und tut alles mit Energie, die ansteckend ist. Sie beinahe leblos einfach liegen zu sehen, fühlt sich für Joel nicht richtig an. 

John hat die Tür wieder geschlossen und nun ist Joel mit seiner Mutter allein in dem kalten und kahlen Krankenhauszimmer. Vorsichtig zieht sich Joel einen Stuhl an das Bett seiner Mutter und nimmt ihre kalte und blasse Hand in seine. Die Hand wirkt leblos, so als wäre all ihr Leben aus ihr herausgezogen worden. Der einzige Beweis für die Lebendigkeit seiner Mutter ist das leise, aber stetige Atmen, dass mit einer piependen Maschine aufgenommen wird. 

„Hallo Mama", flüstert der Brillenträger leise und mit erstickter Stimme. Er erhält keine Antwort. Er hat auch keine erwartet. 

„Hier ist Joel, vielleicht hörst du mich ja", meint er noch leiser. In seinen Augen bilden sich kleine Tränen und er schmeckt Salz in seinem Mund. ‚Jetzt nicht weinen', versucht Joel sich selber einzureden und presst die Lippen hart aufeinander. Er hat sich fest vorgenommen, nicht direkt nach den ersten Worten zu weinen und dieser Vorsatz geht gerade nach Strich und Faden schief. Schon spürt er die erste Träne rollen und wischt sie schnell mit dem Ärmel seines schwarzen Pullis weg. 

„Ich hoffe, dass du mich hörst", meint er. Er will ihr einiges erzählen, was so passiert ist und was er sonst niemanden sagen würde. 

„Ich vermiss dich, Mama. Wir alle tun das. Die Kleinen fragen die ganze Zeit nach dir. Alva und ich tun unser Bestes, damit sie abgelenkt und halbwegs sorgenlos sind. Aber es ist nicht einfach. Wir bekommen nicht so viel Schlaf und ich schlafe nicht mehr gut. Ich hab Alpträume und auch Oma kommt immer wieder in meine Gedanken. Sie passt überhaupt nicht in den Kontext, aber alle meine Gedanken verfangen sich gerade in einem riesigen Chaos und... und alles kommt wieder hoch und verfolgt mich", erzählt er. 

Der Tränenfluss ist stärker geworden und nun macht Joel sich auch nicht mehr die Mühe, die Tränen zu unterdrücken oder abzuwischen. Er lässt sie einfach seine Wangen hinunterrollen und dann auf dem Boden oder seinem Pulli landen. Er erzählt noch eine ganze Weile von seinen Schwestern, was er und Alva alles für sie tun.

„Komm bitte wieder. Wir alle brauchen dich bei uns", meint er. Das sind die letzten Worte, die er zu ihr spricht. Er erhebt sich vom Stuhl und drückt ihr einen kleinen Kuss auf die kalte Stirn. 

Dann geht er mit langsamen Schritten aus dem Raum. Bei dem Gedanken an die laute Straße und das hektische Treiben, wird ihm etwas übel. Er muss seine Gedanken irgendwie ordnen. Und er muss vorallem Noah, der sich ungewollt darin eingenistet hat, aus seinem Kopf vertreiben. Von ihm hat er seiner Mutter noch nichts erzählt. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt