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Etwa eine Stunde nach dem Anruf stehen Noah und Colin vor der Tür des Heimes. Colin hat seinen Rucksack auf den Schultern und hält Noahs Hand fest in seiner. 

Noah schaut das Gebäude ehrfürchtig und unsicher an. Alle Kinder, die hier leben, haben ein Trauma, wurden aus ihrer Familie gerissen. Wäre er auch in so ein Heim gekommen, wenn man die Missstände bei seiner Familie bemerkt hätte? Hätte man ihn und Philip vielleicht sogar getrennt? Er will gar nicht dran denken. 

Colin drückt Noahs Hand kurz, um ihm zu signalisieren, dass er bereit ist, das Gebäude zu betreten. Noah nickt und folgt seinem Freund unsicher. Drinnen stehen sie an einem Empfangstresen, an dem sie einfach vorbeigehen, in eine Art Wohnzimmer. Dort sind ein paar Kinder am Fernsehen und Spielen, während eine Frau mittleren Alters auf sie achtet. 

Colin zieht Noah schnell hinter sich her, in einen Flur, der in ein weiteres lichtdurchflutetes Zimmer führt. Auch hier sind Kinder, allerdings deutlich ältere, am Fernsehen. Manche sind am Handy oder in der Küche, die man um die Ecke erahnen kann. 

Plötzlich kommt eine braunhaarige Frau auf die beiden Jungs zu und nimmt Colin fest in den Arm, sodass der Lockenkopf seine Hand aus der Bindung mit Noah lösen muss. Er umarmt die Frau zurück, während sie ihm Sachen zuflüstert. Noah hört ein „schön, dass du wieder da bist" und „ich war krank vor Sorge". Offenbar ist das Pia, die Betreuerin, von der Colin öfter spricht. Wahrscheinlich ist sie für ihn eine Art Mutterfigur. 

Die Umarmung wird von Colin gelöst und sofort greift er wieder nach Noahs Hand. Eigentlich wollen sie ja die Beziehung geheim halten, aber gerade braucht er Sicherheit, damit seine Füße unter ihm nicht nachgeben. Das letzte Mal, als er in diesem Raum stand, sind die Wände auf ihn zugekommen, er konnte schon fast nicht mehr atmen. 

„Pia, das ist Noah. Ich war bei ihm", stellt Colin nun den Blonden vor und Pia bemerkt ihn offenbar zum ersten Mal. Sie streicht sich eine braune Strähne, die sich aus dem Pferdeschwanz gelockert hat, hinter ihr Ohr und streckt ihm dann die Hand hingegen. 

„Ich bin Pia", stellt sie sich unnötigerweise vor. 

„Freut mich", antwortet Noah lediglich und schüttelt mit eine kräftigen Händedruck die Hand der Frau. Dann wendet sie sich wieder Colin zu. 

„Geh erstmal in dein Zimmer. Wir können später nochmal drüber reden", meint sie und wuschelt dem Jungen einmal durch die Locken.

Aus dem Gang, den Noah bisher noch nicht bemerkt hat, kommt ein schwarzhaariges Mädchen mit Kopfhörern auf den Ohren. In ihrer linken Hand hält sie ein Buch. Als sie Colin sieht, nimmt sie erst voll Verwunderung die großen Kopfhörer ab, ehe sie sich in seine Arme wirft. 

„Colin, du bist wieder da", freut sie sich. Noah spürt ein leichtes Stechen in seiner Brust, als er sieht, wie Colin die Umarmung erwidert und ihr dann noch über den Arm streicht. 

„Sorry. Ich musste einfach mal raus", erklärt er und sieht zu Noah. 

„Clara, das ist Noah. Noah, Clara", stellt er die beiden vor und Noah mustert das Mädchen. Währenddessen verschränkt er die Arme vor der Brust. Clara wird unter seinem Blick etwas unwohl und sie wechselt nervös ihr Standbein. Colin bemerkt das natürlich und legt unauffällig seine Hand auf Noahs Rücken. Sofort löst sich die Anspannung in dem Körper des Blonden und er schaut Clara nicht mehr mit giftigem Blick an. Sie lächelt schüchtern und setzt sich auf die Couch. 

„Wir können später noch bisschen reden", bietet Colin ihr, sie nickt und setzt sich dann die Kopfhörer wieder auf. Noch einmal schaut sie unsicher Noah an, ehe sie ihr Buch wahllos aufschlägt und beginnt, darin zu lesen.

Im Zimmer angekommen, schlägt Colin erstmal die Tür zu. 

„Du hast keinen Grund, sauer auf Clara zu sein", stellt er direkt klar und seine Augen blitzen. 

„Ich weiß. Es hat mich nur irgendwie gestört, das sie dich so innig umarmt hat". 

„Warst du eifersüchtig", fragt Colin. Die Wut, die er gerade noch ein wenig hatte, verwandelt sich schnell in Freude und er beginnt breit zu grinsen. 

„Nein", widerspricht Noah jedoch direkt. Doch der Fakt, das er rote Wangen bekommen hat, überzeugt Colin. 

„Doch, du bist eifersüchtig", meint er belustigt und schlingt die Arme um Noahs Hüfte. 

„Es ist süß", flüstert er ihm ins Ohr und drückt dann einen Kuss auf die weiche Haut von Noahs Wange. Dann löst er sich wieder, um die Sachen aus seinem Rucksack auszupacken. 

„Aber um dich zu beruhigen, Clara ist wie eine Schwester für mich. Da brauchst du dir absolut keine Sorgen zu machen". Noah beginnt sanft zu lächeln und setzt sich auf Colins Bett, um ihm zuzusehen, wie er seine Sachen verstaut. 

„Ich hab dich nie gefragt, warum du eigentlich hier bist", stellt er dann im Flüsterton fest und Colins Bewegungen geraten ins Stocken. 

„Nein, hast du nicht", stimmt er genauso flüsternd zu und hängt seine Jacke an die Tür. 

„Darf ich dich fragen?", stellt Noah noch eine Frage. Colin setzt sich zu ihm aufs Bett und schaut ihn traurig an. 

„Ich bin hier seit ich 6 bin. Meine Eltern sind gestorben", antwortet er. Es bilden sich keine Tränen in seinen Augen. Er hat inzwischen gelernt, mit ihrem Tod umzugehen, die Jahre in Therapie haben sich ausgezahlt. Auch nun geht er immermal, aber es wird seltener. 

„Es tut mir Leid. Ich hätte nicht fragen sollen", entschuldigt sich Noah schnell, jedoch schüttelt Colin den Kopf. 

„Ist schon okay. Irgendwann hättest du es doch bestimmt rausgefunden", meint er nur und lächelt seinen Freund an. „Ich komm schon klar. Und ich hab doch dich".

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt