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Sehr geehrter Herr Temel,

hiermit erhalten Sie die offiziellen Daten für das folgende Schuljahr 2024/25 an dem ‚Albert-Einstein-Gymnasium'.

Sie werden mit Beginn des Schuljahres die Klasse 10/1 besuchen, der Stundenplan wird Ihnen am ersten Schultag bekannt gegeben. Ihre Klassenraumnummer ist die 218, ihr Klassenlehrer:in wird Sie am Montag dorthin leiten. Bitte seien Sie schon 7:45 vor dem Sekretariat im ersten Stock.

Weitere Informationen erhalten Sie von Ihrem Klassenlehrer:in am ersten Schultag, bei Fragen können Sie sich an ihn:sie oder mich wenden.

Wir wünschen ein erfolgreiches Schuljahr und viel Freude am Lernen

Dr. Heiner Zech

Stellvertretender Schulleiter


Das steht in der Email, die die Zwillinge am Freitag erhalten haben. Noah und Philip haben sich ausgemacht, dass Noah den ersten Tag zur Schule und Philip arbeiten geht. Von da an immer abwechselnd.

Am Sonntag bestellen sie sich Pizza, um noch ihren letzten Ferientag ausklingen zu lassen. Nicht sonderlich luxuriöses Essen, aber das ist den beiden egal. Sie haben sich die Tage auf Ebay nach günstigen Möbeln umgeschaut, vorallem Tisch und Stühlen. Immerzu auf der Matratze oder dem Boden zu essen kann nicht gut sein. Noah beißt ein Stück von seiner Pizza ab, als sein Zwilling ihn anschaut. 

„Ich gehe morgen nach der Arbeit mal in ein Möbelhaus. Vielleicht sind Tisch und Stühle nicht so teuer, wie wir denken. Wir suchen uns sonst noch kaputt auf Ebay. Und ein Regal könnten wir auch gebrauchen", überlegt er laut. 

„Sollten wir uns dann nicht lieber eine Kommode zulegen? Wir leben seit 6 Wochen aus unseren Sporttaschen". „Hab ich auch überlegt, aber ein Regal ist billiger, nimmt weniger Platz weg und wir können mehr als nur unsere Klamotten dort lagern". 

Noah nickt verstehend. Es ist eine wirklich gute Idee, die Wohnung etwas häuslicher einzurichten. Und damit meint er nicht Dekoration, sondern Möbel. Im Moment leben sie noch wie aus dem Koffer. Und wenn sie vorhaben länger zu bleiben, sollte das kein Zustand mehr bleiben. „Dann geh ich morgen nach der Schule mal einkaufen", erklärt er und stellt seine Dose vor die Füße. Philip nickt und beißt in sein Stück Pizza. 

„Morgen wird ein guter Tag, ich spüre es", meint er optimistisch.


Um genau 7:40 steht Noah vor dem Sekretariat und wartet. Auf wen genau weiß er nicht. Alle paar Sekunden schaut er auf seine Armbanduhr, in der Hoffnung die Zeiger würden sich schneller drehen. Tut sie nicht. Sie drehen sich eher noch langsamer. Seinen Rucksack hat er vor sich auf den Boden gestellt. Darin befindet sich lediglich ein linierter Block und eine halbvolle Federtasche. Mehr wird er heute hoffentlich noch nicht brauchen. Bücher würden sie sich innerhalb der Woche ausleihen können und ein Taschenrechner wurde ihm auch noch versprochen.

Dann endlich, um 7:43, kommt eine Lehrern direkt auf ihn zu. Sie ist ziemlich groß und trägt ein extravagantes Outfit, wie Noah findet.

„Hallo, du bist Noah, richtig?", fragt sie nett und schüttelt ihm die Hand. Noah nickt mit erzwungen Lächeln und etwas Überforderung. „Schön dich kennenzulernen, ich bin Frau Miesbach", stellt sich die Frau vor. 

„Freut mich ebenso", presst Noah aus Freundlichkeit hervor. 

„Dann komm mal mit, nicht das wir noch zu spät kommen". Sofort stiefelt Frau Miesbach auf ihren hochhackigen Schuhen davon und Noah folgt ihr mit schnellen Schritt. Sie müssen in den zweiten Stock laufen und am Ende der Treppe kämpft Noah nach Luft. Warum sind Schultreppen anstrengender als Normale?

Als Frau Miesbach die Tür aufdrückt, wird die Klasse leise. Gerade war noch reges Gewusel und Gelächter, nun sitzen alle brav an ihren Plätzen und erwarten ihre Klassenlehrerin freudig. „Hallo, ihr Lieben und willkommen im neuen Schuljahr. Es freut mich, euch alle so gesund wiederzusehen", begrüßt die Frau ihre Klasse und stellt sich vor die digitale Tafel. Noah stellt sich unschlüssig in die Tür und schaut in die Klasse. Etwa 20 Schüler, ein paar Plätze sind frei. 

„Wie ihr vielleicht seht, haben wir einen neuen Schüler. Willst du dich kurz vorstellen?". Nun liegt alle Aufmerksamkeit bei Noah. Dieses Gefühl, von allen angestarrt zu werden, macht ihn ziemlich nervös. 

„Äh, hi. Ich bin Noah, 18 Jahre alt und bin in den Ferien nach Erfurt gezogen", erzählt er. 

„18, warum bist du dann erst in der 10. Klasse?", fragt ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren aus der letzten Reihe. Das diese Frage aufkommt, hätte Noah sich denken können. 

„Ich bin von einer Realschule, muss also eh die 10. wiederholen. Außerdem musste ich die 8. wiederholen und wurde erst mit 7 eingeschult", erklärt er weiter. 

„Noah, setz dich doch bitte dort drüben hin", deutet Frau Miesbach ihn dann an. Dabei zeigt sie auf eine komplett leere Bank am Fenster in der mittleren Reihe. Diesen Platz muss er sich wirklich gut merken, damit Philip ihn am nächsten Tag ohne Probleme finden kann, sodass es nicht komisch scheint.

Frau Miesbach fängt mit einfachen Belehrungen an und Noah schaltet dabei halb ab. An jeder Schule gelten doch eh die gleichen Regeln, die man sich Jahr für Jahr anhören muss. Da kann er getrost weghören.

Plötzlich öffnet sich die Tür und ein brünett gelockter Junge schlüpft ins Klassenzimmer. Frau Miesbach unterbricht ihren Monolog und schaut den Jungen an. „Entschuldigen Sie die Verspätung, ich habe meinen Wecker nicht gehört", sagt er schuldbewusst. „Ist gut, Colin. Setz dich bitte dorthin", meint Frau Miesbach und deutet auf den Platz neben Noah. Eigentlich war dieser Colin schon im begriff sich neben ein blondes Mädchen zu setzen, allerdings machte die Klassenlehrerin ihm einen Strich durch die Rechnung.

Sobald Colin durch die Tür getreten ist, hat er Noahs Aufmerksamkeit beansprucht. Noahs Atem stockt bei dem Anblick des Lockenkopfes und er muss heftig schlucken, um sich wieder in die Realität zurück zu befördern. Er kann sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen, er muss locker bleiben.

„Hi, ich bin Colin". Eine engelsgleiche Stimme begrüßt Noah flüsternd. Colin, der inzwischen neben ihm sitzt, grinst ihn breit an und hält ihm unauffällig die Hand hin. 

„Noah", erwidert der Blonde kurz angebunden und nimmt bewusst nicht Colins Hand. Seine Stimme lässt schon eine Gänsehaut über seinen Körper schießen, wer weiß, was eine Berührung mit ihm macht. Noah ist jetzt schon froh, dass Philip am nächsten Tag für ihn in die Schule geht.

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt