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Dienstag Abend wird Philip von einer anonymen Nummer angerufen. Noah ist eine Runde spazieren gegangen, um den Kopf frei zu kriegen, wie er meinte. Philip ist allein in der Wohnung und hat bis eben noch die Englischhausaufgaben fertig gemacht, die Noah morgen abgeben muss. Der ältere Zwilling hat seinem Bruder versprochen, die restliche Woche zu gehen, als Entschuldigung für Montag. Philip hat ihm allerdings den Freitag abgenommen, weil er weiß, wie sehr Noah diesen Schultag hasst. 

Der Jüngere schaut auf sein Handy, als es aus dem Nichts heraus anfängt zu vibrieren. Er sieht nur ‚Anonym', überlegt kurz, ob er es einfach klingeln lässt und geht dann schließlich doch ran. 

„Hallo?", fragt er. 

„Philip, endlich gehst du an Telefon", hört der Zwilling eine sehr vertraute Stimme am anderen Ende. Kalt, hart, emotionslos. Unverkennbar sein Vater. Philip gefriert das Blut in den Adern. Er wünscht sich, er hätte den Anruf nicht angenommen. Er könnte einfach auflegen, seine Handynummer wechseln und seine Eltern hinter sich lassen. 

Aber sein Körper tut nichts. Seine Hand hält das Handy versteift ans Ohr und Philip hat das Gefühl, überall zu zittern. Seine Atmung stockt etwas, sein Herz rast. Aber alle fühlt sich unangenehm an, so als würde sein Geist versuchen aus seinem Körper auszubrechen und sich mit aller Kraft gegen ihn wehren. 

„Was willst du?", flüstert Philip ins Telefon als einzige Reaktion auf die Worte seines Vaters. 

„Das weißt du doch, Sohn. Ich will, dass du wieder nach Hause kommst. Das ist doch alles nur Zirkus, was du machst". In Philips Adern beginnt das Blut vor Wut zu kochen. 

„Ich komm nicht zurück", meint der Zwilling trocken und emotionslos. Sein Vater soll unter keinem Umständen mitbekommen, wie stark er ihn einschüchtert und das auch noch übers Handy. Philip fühlt sich wieder so klein, genauso wie als wäre er wieder das kleine Kind, das ausversehen ein Wasserglas hat fallen lassen. Er hatte schon immer sehr viel Respekt vor seinem Vater, vorallem aber Ehrfurcht. 

„Warum denn nicht? Du hattest doch nie ein schlechtes Leben bei uns, es hat dir an nichts gefehlt", versucht sein Erzeuger ihn weiter zu überreden. ‚Doch, an Liebe und Geborgenheit', denkt Philip, spricht es aber nicht aus. Da er nicht weiß, was er sonst hätte antworten können, legt er mit den Worten 

„Ich bleib hier", einfach auf. Dann stellt er sein Handy aus, damit sein Vater es nicht nochmal versucht, ihn anzurufen. Noah wird er nicht anrufen, ansonsten hätte er in der Pluralform von seinen Söhnen gesprochen, dass beide wiederkommen sollen. Hat er aber nicht, es war so, als hätte Noah in seinem Leben nie existiert. 

Seine Eltern machen Philip krank, verrückt. Und es macht ihn verrückt, dass er darüber nicht mit Noah reden kann. Philip kennt seinen Zwilling besser als sich selbst, er weiß, dass sich Noah unnötig Schuldgefühle machen würde. Das will er ihm nicht antun, also versucht er alleine gegen seine Eltern anzukämpfen. Einen Vorteil haben die Zwillinge noch, ihre Eltern wissen nicht, wo sie hingezogen sind. 

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie zuerst in Erfurt nach ihnen suchen würden, wenn sie denn überhaupt nach ihm suchen. Philip bezweifelt es.


Noah ist in ihrem Viertel in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs. Seine Jacke schlingt er eng um seinen Körper, da der Wind am Abend doch ziemlich kalt ist und ihn frösteln lässt. Und trotzdem will er noch nicht gehen. Die kalte Luft hilft ihm besser beim Denken, als die etwas stickige Luft in der Dachgeschosswohnung. Und Gedanken sortieren muss er dringend. 

Colin weiß nun von ihrem Geheimnis, zumindest dem Zwillingsgeheimnis. Ansonsten weiß er nichts. Er weiß nicht, wie ihre Vergangenheit aussieht, warum sie rausgeschmissen wurden und warum sie nun hier sind. Und er weiß nicht, wie viel Angst Noah hat, von ihm verletzt zu werden. 

Noah ist es gewöhnt, jeden zu vergraulen, den er näher kennengelernt hat. Wahrscheinlich wartet der Blonde nur auf den Moment, in dem Colin ihm den Rücken kehrt und sie sich nie wieder sehen. Noah versucht wirklich sich selbst auf Abstand zu halten, aber es ist zu schwierig. 

Colin ist der perfekte Mensch in seinen Augen, innerlich und äußerlich. Und er ist halt nur Noah. Er kann Colin nicht das Wasser reichen. Und er wird daran Schuld sein, wenn sie einander verlieren.


In der Nacht schlafen Noah und Philip jeweils mit einem Kopf voller Gedanken in unruhige Schläfe. Die Gedanken sind zu laut, um die verstummen zu lassen und zu schwierig, um sie in Worte zu fassen. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt