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Am Montag ist Philip kurzfristig zur Schule gegangen, nachdem Noah nach dem Wecker zwar nicht wach war, aber dafür er. Philip hat einen neuen Wecker eingestellt und seinem Zwilling eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen. Dann hat er sich den Rucksack aus der üblichen Ecke geschnappt, seinen Kaffee am Automaten, der wieder funktioniert und hört den restlichen Weg zur Schule Musik durch die Kopfhörer, die er aus Rache von Noah genommen hat.

In der ersten Stunde hat die Klasse Deutsch. Philip lässt sich auf seinem Platz fallen und holt seine Federtasche heraus. Mit einem Kugelschreiber schreibt er ein unauffälliges ‚P' auf seinen linken Handrücken, so wie sie es mit Colin ausgemacht haben. 

Dann geht er aus Langeweile mit zu Ava, einer guten Freundin von Colin. Sie sitzt unbeteiligt in einer anderen Ecke des Klassenzimmers. 

„Hi, Ava", begrüßt Philip das Mädchen. Etwas irritiert schaut sie nach oben. Sie ist es nicht wirklich gewohnt von anderen Leuten, als ihren besten Freunden, angesprochen zu werden. 

„Hey", antwortet sie knapp und widmet sich dann wieder ihrem Handy. Philip nimmt das als Zeichen, sie lieber in Ruhe zu lassen und geht zurück auf seinen Platz und wartet bis Colin kommt. Der Lockenkopf kommt etwa 10 Minuten vor Unterrichtsbeginn mit Julia in den Raum. 

„Hey, Noah", begrüßt er seinen Sitznachbar und sein Blick fällt auf Philips Handrücken. Er nickt ihm zu, als Zeichen, das er es verstanden hat und geht zurück zu Julia, damit sie sich noch ein paar Minuten unterhalten können. Er selbst bleibt sitzen, mit Julia hatten weder er noch Noah wirklich viel zu tun gehabt. Irgendwann kurz vor Beginn der Stunde kommt auch Joel. Er sitzt in der ersten Reihe und weiter weg, sowohl von Colin als auch Julia und Ava, die hintereinander sitzen. Der Brillenträger sitzt allein dort vorn, weil der Platz unbeliebt genug ist. Aus gutem Grund, der Lehrer hat einen perfekt im Blickfeld. Joel ist der einzige Schüler, der dort freiwillig Schuljahr für Schuljahr sitzt. Philip versteht solche Schüler nicht, nicht, dass er sie verstehen wöllte. 

Die Klingel ertönt und alle wuseln auf ihre Plätze, so auch Colin, der sich neben Philip fallen lässt. „Du bist Philip?", fragt Colin im Flüsterton, um sicherzugehen, dass die Zwillinge ihn nicht austricksen. Sie haben sich in ihrer Kindheit oft für den anderen ausgegeben, davon haben sie viele Geschichten erzählt. Aber Noah, der sich als Philip ausgibt, der sich als Noah ausgibt, dass ist wirklich hohe Liga. Philip schüttelt grinsend den Kopf. 

„Ja, ich bin Philip. Aber irgendwann, irgendwann wird hier Noah mit einem ‚P' auf dem Handrücken sitzen", warnt er ihn vor und Colin tritt ihm dafür sanft gegen das Schienbein.

Am Nachmittag kommt Colin wieder mit zu Philip und Noah. Im Heim ist es in letzter Zeit nicht so gemütlich wie die letzten Jahre. Manche Kinder bringen nur Ärger und die Betreuer haben alle Hände voll zu tun, ihnen hinterher zu räumen. Colin wird dabei häufig übersehen, was nicht umbedingt schlimm sein muss. 

Aber er merkt, dass er nicht mehr der kleine Junge ist, der spezielle Betreuung brauchte. Er ist inzwischen der Junge, der am längsten in Heim wohnt und sich auskennt. Die Betreuer vertrauen ihm sehr und Colin schätzt das auch, aber es versetzt ihm trotzdem einen Stich, nicht immermal ein entspanntes Gespräch mit seiner Lieblingsbetreuerin zu führen. 

Sie haben oft zusammen in der Gemeinschaftsküche gekocht und Colin hat von allem Möglichen erzählt. Von der Schule, von Julia, von Joel und von jeglichen Dingen, die er irgendwo aufgeschnappt hat. Doch die Zeiten sind vorbei. Meistens kocht sich Colin alleine etwas, wenn die meisten schon mit dem Essen fertig sind und schon auf ihre Zimmer verschwunden sind. Oft ist Colin auch bei Julia und isst bei ihrer Familie zu Abend, allerdings lässt ihn das nur noch mehr seine Familie vermissen. 

An seine Eltern denkt Colin noch fast jeden Tag, aber inzwischen scheinen die guten mehr als die schlechten. Er muss nicht mehr weinen, wenn er an sie denkt, er lächelt sogar oft. Er ist auf dem Weg der Besserung.

Colin fühlt sich wirklich wohl bei den Zwillingen. Mindestens einer hat eine lustige Geschichte auf den Lippen und die Stimmung ist nie angespannt. Man merkt ihnen an, dass sie schon ihr Leben lang ein Team waren und das sie zusammen einfach funktionieren. Sie brauchen keine Aufsichtspersonen, die ihr Leben kontrollieren. 

Noah hat diese ruhige Art, die Ordnung verlangt und er strahlt Gelassenheit aus, die für eine angenehme Atmosphäre zum Entspannen führt. 

Philip hat eine eher vorausschauende Art und Colin merkt schnell, dass er für jede Notlage eine Lösung im Kopf hat. Durch sein etwas lauteres Verhalten weiß er immer, wann man welches Thema aufbringen sollte, damit sich niemand langweilt. 

Ja, Colin genießt es ohne Ende bei den Zwillingen zu sein und ihnen einfach bei ihrem Alltag zuzusehen. Er hilft Noah beim Kochen, während Philip den Tisch deckt und das Schlafzimmer einmal durch kehrt. Dann essen sie zusammen, Noah und Colin machen den Abwasch und Philip kehrt durch Wohnzimmer und Eingangsbereich. 

Colin ist fast schon erstaunt, wie gut die beiden ihren Haushalt ohne große Diskussionen hinbekommen. Er kennt ein normales Familienleben nur durch Julia, er selbst war zu klein, um es bei sich zu erfahren. 

Dann ist er ins Heim gekommen und da ist eh vieles anders als in normalen Familien. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt