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„Noah, ich warne dich", ruft Philip durch das Schlafzimmer, das mithilfe einer Lampe in warmen, gelblichen Licht leuchtet. Draußen ist es schon dunkler, die Tage werden merklich kürzer und kühler. Also haben sich Philip, Colin und Noah in die warme Wohnung gesetzt und spielen eine Runde Mensch-Ärger-dich-nicht, das Colin aus dem Heim mitgebracht hat. 

Noah, der schon zwei grüne Figuren im Ziel hat würfelt und setzt die dritte Figur nach vorne. Die Warnung von Philip ignoriert er und wirft ihn raus. Philip hat noch keinen seiner gelben Spieler im Ziel. 

„Ich hab dich gewarnt, du Arsch", schreit er Noah an und will ihn über das Spielfeld angreifen. Noah lehnt sich nach hinten und lacht einfach nur. Colin grinst, den Würfel hat er schon in seiner Hand und wartet, das die Zwillinge sich auf das Spiel konzentrieren. Er ist eher ein stiller Spieler, was ihm oft den Gewinn bringt. Auch jetzt hat er schon drei seiner blauen Figuren im Ziel und würfelt. Er setzt die letzte Figur, die er auf dem Brett hat. Dann gibt er den Würfel an den jüngeren Zwilling weiter, der mal wieder darum kämpft, eine 6 zu würfeln. Als er es nicht schafft, lehnt er sich einfach zurück und beginnt zu schmollen. 

„Ihr seid blöd", meint er und schaut sich genauestens die Decke über ihm an. Weiß, etwas dreckig und vom Boden aus weit oben. 

„Phili. Das ist doch nur ein Spiel", meint Noah, während er den Würfel wirft. Eine 6. Er nimmt den vorderen seiner Spieler, würfelt erneut und schmeißt Colin raus. 

„Ernsthaft?", fragt der Lockenkopf spaßeshalber. 

„Ich will doch nur, das du noch ein wenig mitspielst", besänftigt Noah ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. 

„Und wie lange soll ich noch spielen?", fragt Philip empört. Er sieht die beiden von seiner Position vielleicht nicht, hören kann er immernoch sehr gut. 

„So lange du willst". 

„Dann höre ich jetzt auf". Philip setzt sich zufrieden wieder auf und bevor Widersprüche seitens Colin oder Noah einsetzten, ist das Spielbrett schon in der Packung gelandet. Das Spiel ist offiziell zu Ende und Colin und Noah müssen den Fakt einfach hinnehmen. 

„Ich hätte gewonnen", ist das einzige, was Noah noch sagt.


Colin öffnet die schwere Holztür, und schmeißt den Schlüssel auf das kleine Kästchen neben den Jackenhacken. 

„Ich bin's", ruft er in das Haus. Aus einem Raum in der Nähe der Wohnungstür kommt eine kleinere Frau mit roter Kochschürze. 

„Hallo, Schatz. Wie war die Schule?", fragt sie. Christina Thewes geht auf ihren Sohn zu und hebt ihre Hand, um durch die braunen Locken zu wuscheln. 

„Du solltest vielleicht mal zum Friseur gehen", meint sie, die Hand weiterhin den Haaren ihres Sohnes, der sie schon fast um einen Kopf überragt. 

„Ich mag's so", antwortet Colin einfach nur. Er zieht Jacke und Schuhe aus, ehe er seiner Mutter in die Küche folgt, aus der Christina schon gekommen war. Es riecht herrlich nach Apfelmuffins, die eine Spezialität der Bäckerin sind. Colin liebt sie schon sein ganzes Leben lang. Er wirft einen Blick in den Ofen, wo er die Muffins schon erspähen kann. 

„Also, wie war dein Tag?", fragt Christina erneut und sieht ihren Sohn neugierig an. Sie füllt mit einem Esslöffel den Teig in weitere Muffinförmchen. Colin zieht die Besteckschublade auf, nimmt sich einen Teelöffel und stibitzt etwas Teig aus der großen Schüssel. 

„Wie immer. Ganz okay", antwortet er kurz angebunden. 

„Hast du eine Note bekommen?", fragt seine Mutter weiter. 

„Ja, 8 Punkte". 

„In welchem Fach?" 

„Deutsch". 

„Sonst muss ich dir doch auch nicht alles aus der Nase ziehen. Ist alles gut bei dir?". Colin nimmt noch ein wenig mehr Teig in den Mund und tanzt mit der Zunge um den Löffel. Er denkt nach. Eine Sache ist passiert. Nicht heute, schon vor ein paar Wochen. Der Lockenkopf hat sich endlich getraut Noah auf ein Date einzuladen und nach ein paar weiteren Dates sind sie zusammen-gekommen. Seinen Eltern hat er es noch nicht erzählt, es war noch nie der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Colin überlegt, ob er es jetzt erzählen sollte. Seine Mutter und er, ein ruhiger friedlicher Moment. 

„Mama, ich denke, ich sollte dir was erzählen", meint er. 

Plötzlich wird die Terrassentür aufgerissen und ein braungebrannter Mann, etwas größer und stämmiger als Colin tritt in die Küche. 

„Hallo Sohn", meint er und winkt Colin zu. Jonas, Colins Vater, trägt eine kaputte Arbeitshose, gepaart mit einem karierten Hemd voller Löcher und Farbflecke. Er war in der Scheune des Hofes, auf dem die Thewes wohnen und hat an einer seiner Maschinen gebastelt. Colins Mut hat ihn wieder verlassen. Er wollte es eigentlich erst seiner Mutter und dann beim Abendessen seinem Vater von der Beziehung erzählen. Die Wörter sind in seinem Hals stecken geblieben. 

„Jonas, du solltest duschen, du stinkst", sagt Christina zu ihrem Mann, der mit dreckigen Stiefeln in ihrer guten Küche steht. 

„Colin, was wolltest uns etwas erzählen?", wendet sie sich mit sanfter Stimme wieder an ihren Sohn. Colin schaut sie mit großen Augen an, so als hätte er sie nicht verstanden. Dann senkt er den Kopf und sucht nach Worten. 

„Ich... ähm... ihr... ich bin... ich hab", versucht er es, eher er den Arm seiner Mutter auf seinem spürt. „Lass dir Zeit", meint sie nur leise und tröstend, ehe sie ihm aufmunternd anlächelt. „Ich bin bisexuell", murmelt er schnell, ehe ihn der Mut wieder verlässt. 

„Och Baby", seufzt Christina und zieht Colin in eine feste Umarmung. Colin legt seinen Kopf auf die Schulter der Frau und eine einzige Träne bahnt sich ihren Weg aus seinem Auge und rollt ihm die Wange hinab. 

„Und ich habe einen Freund", beichtet Colin während der Umarmung. 

„Das freut mich sehr, mein Schatz. Lad ihn gerne mal ein, ich mache uns etwas feines. Was mag er denn?", fragt seine Mutter direkt und schaut Colin in die grünen Augen. Colin presst ein Lachen über die Lippen. Das ist seine Mutter. Sie denkt oft an Essen, vorallem für andere Menschen. Sie ist eine wirklich herzliche Person, die immer bemüht ist, die Menschen um sich herum glücklich zu machen. Colin hat Glück, dass er so eine Mutter hat. 

Eine große Hand landet auf Colins Schulter. Sein Vater steht hinter ihm und lächelt ihn an. „Ich bin stolz auf dich", meint er bloß und Colin grinst dankbar. Seine Angst war völlig unbegründet. Tief in sich wusste er schon, dass die Reaktionen positiv sind, weil er seine Eltern kennt. Aber irgendwie ist die Angst einfach da. „Ich hab euch lieb".

Colin wacht durch das nervtötende Klingeln seines Weckers. Am liebsten hätte er geweint. Natürlich war das alles ein Traum. Seine Eltern sind nicht mehr da und er wird nie wieder das Bauernhaus betreten, wird nie wieder die wärmenden Wörter seiner Mutter erhalten. Und er wird nie wieder die Apfelmuffins essen können. Denn alles war nur ein Traum. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt