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Am Dienstag nachdem Philip wieder in der Schule war, wird er von Alva gefragt, ob er ihr und Joel wieder mit ihren kleinen Schwestern helfen können. Philip hat zugestimmt, ohne das er wirklich darüber nachdenkt. Für ihn ist es inzwischen vollkommen normal auf die kleinen Schwestern seines Nicht-Freundes aufzupassen. Joel ist dabei nur ein bitterer Beigeschmack. Alle anderen mögen ihn, sind nett und absolut nicht wie ihr Bruder.

So kommt es, dass Philip bei den Lucas' im Wohnzimmer auf der Couch sitzt, während die Grundschulmädchen auf dem Boden liegen und Hausaufgaben machen. Joel muss noch irgendwo hin, wie Alva Philip gesagt hat. Das Mädchen macht gerade Tee für sich und Philip in der Küche. 

„Noah", hört Philip auf einmal neben sich. Wilma sitzt neben ihm auf dem Sofa und schaut ihn mit großen Augen an. 

„Dürfen wir deine Haare flechten?" 

Philip schaut sie überrascht an. Die Frage hat er noch nie gestellt bekommen und selber hat er es auch noch nie gemacht. Der Dutt ist sein und Noahs Markenzeichen, deswegen haben sie noch nie etwas anderes ausprobiert. Plötzlich steht auch Amalia neben ihm. 

„Ja, bitte. Alva sagt immer nein und Joels Haare sind nicht mehr lang genug", bettelt sie ebenfalls und setzt den gleichen Hundeblick wie ihre Schwester auf. Dem Blick, dem Philip von beiden Seiten ausgesetzt ist, kann er nicht widerstehen. 

„Na gut", stimmt er also zu und begeistert springen Wilma und Amalia auf, wahrscheinlich um Haarbürste und Haargummis zu holen. Nora und Madita haben das natürlich mitbekommen und rennen den großen Schwestern mit der selben Begeisterung hinterher. Und Philip fragt sich innerlich, warum er zugesagt hat. 

Keine Minute später stehen die 4 Mädchen grinsend vor ihm. Wilma hat eine Flasche in der Hand, in der anderen eine Haarbürste. Um den Finger hat sie ein paar bunte, dünne Gummis. Amalia hat einen kleinen, quitschpinken Koffer in der Hand. Philip spürt wie sich das Gefühl der Reue in sich breit macht. Als er in Maditas Hand eine kleine Pastikkrone sieht, kommt kurz der Gedanke in seinen Kopf, einfach abzuhauen. Aber dann sieht er die Vorfreude auf den Gesichtern der Mädchen und weiß, dass er es nicht bereuen wird, den kleinen eine gute Zeit zu geben, wenn auch nur für 10 Minuten. 

Nora, die nichts in der Hand hat, schiebt einen der Sessel genau vor das Sofa, damit man sich darauf setzten kann und Philip direkt gegenüber sitzt. Amalia und Madita klettern an jeweils eine Seite von Philip. Das ältere der beiden Mädchen löst den Dutt und bindet sich den Haargummi um das dünne Handgelenk. Wilma hat den beiden die Gummis, die Flasche und die Haarbürste gegeben. Sofort setzt Amalia die Flasche an, als Philip sie aufhält. 

„Was genau ist das?", will er wissen und lehnt sich etwas zurück, so als wäre er dann sicher. 

„Das ist Kämm-Spray, damit es nicht ziept", belehrt ihn das brünette Mädchen und skeptisch, aber auch neugierig beugt sich Philip wieder vor. Er wirft einen Blick auf die Verpackung. 

„Pfirsich-Duft", stellt er nüchtern fest. 

„Okay, ihr könnt anfangen", meint er dann. Sofort liegt ein stechend süßer Duft im Raum, der in seinen Haaren klebt. Amalia sprüht die Flüssigkeit auf, während Madita ihm durch die Haare, die bis knapp über die Schultern reichen, kämmt. Währenddessen breitet sich Wilma auf dem Sessel vor ihm aus samt dem pinken Köfferchen. Sie öffnet die Schatulle und zum Vorschein kommen viele kleine Paletten mit bunten Farben, 2 Pinsel, einer mit Borsten, einer mit einem Schwämchen. 

„Die Abmachung war flechten, nicht schminken", merkt er an. 

„Wir bieten dir kostenlos das Gesamtpaket", antwortet Wilma und schaut ihn unschuldig an. Philip gibt sich geschlagen ohne weiter zu widersprechen. Gegen die Mädchen kommt er eh nicht an. Die 4 machen sich direkt ans Werk. Madita und Amalia haben seine Haare getrennt und machen einen Flechtzopf auf ihrer jeweiligen Seite, während Wilma beginnt, Philip Lidschatten aufzutragen. Nora sitzt neben ihr auf der Armlehne und berät sie. 

Dadurch, dass Philip die Augen geschlossen hat, bemerkt er nicht wie Alva mit 2 Teetassen durch die Tür kommt. Erst ihr lautes Loslachen macht ihn auf die aufmerksam. Schnell stellt Alva die Tassen ab, damit sie diese nicht ausversehen fallen lässt. Ihr Lachen bekommt sie trotzdem nicht ein. 

„Was ist?", fragt Philip unverblümt. Natürlich kann er sich vorstellen, warum Alva so laut lacht, aber er kann die ganze Situation als natürlich erachten. Für ihn ist es eine Frage der Einstellung. 

„Nichts. Absolut nichts". Alva setzt sich neben den Jungen, immernoch ein Lachen auf den Lippen, sobald sie ihn ansieht. Sie schlürfen ihren Tee, als Alva den Fernseher einschaltet. Die Nachrichten laufen gerade. 

„Heute wurden wir Zeugen eines Ereignisses, dass es so noch nie gegeben hat", kündigt die Nachrichtensprecherin an. Philip hört nur mit halben Ohr zu. „Der neue schwedische König Wilhelm ist nach dem Tod seiner Mutter Königin Kristina offiziell in sein Amt getreten. An seiner Seite bei der Ankündigung sein jahrelange Partner Simon". 

„Der erste queere König jemals", meint Alva beeindruckt. Philip nickt ihr zu, direkt folgt eine Beschwerde von Wilma, dass er nicht so wackeln soll.

Etwa 20 Minuten später sind die Mädchen mit ihrem Werk fertig. Philip hat 2 geflochtene Zöpfe, einen mit blauen Gummi, einen mit lilanen. Der Lidschatten über seinen Augen ist knallrosa, genauso wie der Lippenstift, den Wilma großzügig aufgetragen hat. Als sich Philip im Spiegel ansieht, kann er sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. Kein Wunder, dass Alva ihn nicht ernst nehmen konnte. Er kann es ja selber nicht. 

„Danke, ich sehe wirklich schöner aus als vorher", meint er zu den Mädchen, die ihn stolz anlächeln. 

„Das hast du recht", stimmt Alva unverblümt zu und zwinkert ihm kurz zu. Philips Wangen werden rot, doch dank der Farbe, die Wilma dort eingearbeitet hat, fällt es nicht auf. Trotzdem dreht Philip seinen Kopf weg von Alva ohne noch etwas zu sagen. Plötzlich hören die Geschwister und Philip einen Schlüssel, der im Haustürschloss gedreht wird. 

„Das wird Joel sein", bemerkt Alva vom Sofa aus. 

„Hallo", ruft eine bekannte Stimme in die Wohnung. Wie Alva vermutet hat, ist es Joel, der nach ein paar Sekunden schon im Wohnzimmer steht. Natürlich fällt ihm Philip sofort auf. Doch statt ihn wie sonst immer anzuschnauzen, klappt ihm nun die Kinnlade auf den Boden. 

„Seh ich so scheiße aus?", fragt Philip gerade heraus, als Joel ihn mindestens 3 Sekunden wie ein Karpfen angestarrt hat. Der Brillenträger antwortet nicht, sondern dreht sich auf der Stelle um und poltert die Treppe nach oben, dann knallt eine Tür ins Schloss. 

„Das war seltsam", bemerkt Alva. Nickend und ohne weitere Worte stimmt Philip ihr zu. Joel ist in seinen Augen wirklich seltsam. Und er kommt nicht umher, als zu denken, dass Joel wirklich denkt, dass er blöd aussieht. Dass er sich vor Minuten selbst nicht Ernst nehmen konnte, vergisst er. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt