Kapitel 30

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Gedankenverloren packte ich meine Sporttasche in der Umkleidekabine der Ballettschule ein und kämpfte damit, mir meine Enttäuschung, die sich in den letzten beiden Stunden breitgemacht hatte, nicht ansehen zu lassen. Mit mir waren noch vier andere Tänzerinnen dabei sich umzuziehen und sich auf den Weg nach Hause zu machen, und auf Fragen, wieso man als Neue an der Schule so ein Gesicht ziehen würde, hatte ich keine Lust. Wahrscheinlich würde letzten Endes noch das Gerücht rumgehen, ich fühle mich nicht wohl und war mit meiner Trainerin oder sonstigen Dingen unzufrieden. Schließlich war ich das nicht - ganz im Gegenteil: Ich fühlte mich prächtig, hatte sogar das Gefühl, ein wenig angekommen zu sein, gerade nachdem ich mich gestern so gut mit Ben unterhalten hatte.
"See you, girls.", warf ich in die Runde, die ausschließlich aus Engländerinnen bestand und schulterte meine Tasche.
Kurz nachdem ich die Tür der Kabine hinter mir zugezogen hatte und den Gang entlang in Richtung Ausgang lief, kamen meine unterdrückten Gedanken wieder ans Tageslicht. Wo war ich stehengeblieben? Bei der Tatsache, dass ich mich wegen dem Gespräch mit Ben angekommen fühlte. Doch so sehr mich dieses Gespräch am Vortag auch erfreute, desto trauriger machte mich die Tatsache, dass er jenes Versprechen, mich an diesem Tag bei meinem Training zu besuchen, nicht eingehalten hatte, umso trauriger. Er würde in den nächsten Wochen, sobald das Paartraining beginnen würde, mein Partner sein und mit mir meine Abschlussaufführung tanzen. Innerlich hatte ich gehofft, dass er wirklich dieser nette junge Mann vom Vortag war, doch wahrscheinlich hatte ich mich nur getäuscht und er hatte sich nur so gegeben, damit ich nicht sofort von ihm abgeschreckt war. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, ging er nicht gerade sinnvoll an den Plan, sich bei mir beliebt zu machen, ehe er das eingebildete Arschloch raushängen ließ, ran. Ein Gespräch war ein wenig zu schwach, um die aufgebauten Sympathiepunkte bei mir auch für einen längeren Zeitpunkt beizubehalten.
"Claire, hey Claire!", sofort schoss mein Kopf in die Höhe, meine Beine blieben fast schon von allein stehen und die Stimme, die mir so bekannt und trotzdem fremd vorkam, klang urplötzlich wie Musik in meinen Ohren.
"Ben?", fragend blickte ich auf den Mann, der durch eine Tür und mit wehender Jacke auf mich zu gerannt kam.
"Ja, hey. Es tut mir leid, ich...", schwer atmend stand er vor mir und stützte sich mit seinen Händen auf den dünnen Oberschenkeln ab.
"Hol erstmal Luft. Was ist los?", versuchte ich ihn zu beruhigen und dachte schon gar nicht mehr an die Gedankengänge, die mich Sekunden zuvor noch traurig gemacht haben. Sie waren wie weggeblasen, viel mehr zählte für mich, dass er doch noch gekommen ist. Vielleicht viel zu blauäugig, gerade aufgrund der Tatsache, dass ich ihn kaum bis eigentlich gar nicht kannte, doch trotzdem tat ich in dem Moment nichts gegen meine Gefühle, gegen mein Handeln.
"Ich war gerade noch bei einer Besprechung und die hat sich derart in die Länge gezogen, dass ich dein Training total verpatzt habe. Denk jetzt bloß nicht, dass es nur eine dumme Ausrede ist, du kannst gerne die anderen Trainerinnen fragen, ja sogar Darcey...ich wollte dich wirklich nicht versetzen!", quasselte er unaufhörlich auf mich ein, dass ich schon Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen. Lächelnd sah ich ihm dabei zu, wie er meine Hände nahm und wartend in meine Augen sah.
"Ist schon okay, ich glaub dir ja.", mein Lächeln verwandelte sich in ein Lachen und ich spürte schon förmlich, wie sich in Ben's Körper die Erleichterung breitmachte.
"Kann ich das irgendwie wieder gut machen?"
"Ja, du kannst mich auf eine Cola einladen, ich habe irre Durst."

"Was hast du eigentlich vor, wenn du wieder zurück in Deutschland bist?", prüfend musterte Ben mich von der anderen Seite des Tisches.
"Mein Studium wieder aufnehmen, weiter tanzen und vor allem die Auftritte aufholen, die wegen der Aktion, in der ich gerade stecke, nach hinten verschoben wurden.", erklärte ich ihm.
"Dann kannst du doch eigentlich gleich hier bleiben, oder nicht?", grinste mein Gegenüber mich an. "Oder wartet wer auf dich, der dein Herz erobert hat?"
"Na ja.", Herz erobert? Mir blieb fast schon die Spucke weg und der Kloß, der sich innerhalb von Sekunden in meinem Hals gebildet hat, wurde immer größer. "Es wartet schon wer auf mich und mein Herz hat er auf jeden Fall auch erobert, nur in welchem Sinne weiß ich noch nicht so genau.", versuchte ich ihm zu erklären, um so einfach und schnell wie möglich aus dieser Situation zu entfliehen.
"Das versuchst du jetzt rauszubekommen?", interessiert beäugte er mich und zog leicht an seinem Strohhalm, um kurze Zeit später - seine Augen immer noch auf mich gerichtet - einen Schluck Cola seine Kehle herunterzuspülen.
"Ich denke, da komm ich gar nicht drum rum. Das geht alles unterbewusst. Aber wenn ich ehrlich bin, gewöhnt man sich an die Sehnsucht und an das Vermissen viel schneller als erwartet.", öffnete ich mich ihm ein wenig und wunderte mich selbst über meine Wortwahl. Ich gewöhnte mich daran, Bill zu vermissen? Spätestens wenn ich seine SMS lesen oder mit ihm telefonieren würde, wären meine Gefühle wieder aufgewühlt und der Schmerz in meinem Herzen, das Gefühl zurückzuwollen, wäre wieder da und schlimmer, als je zuvor. Gerade deswegen war ich so froh, dass ich mit Ben hier saß und den Abend nicht alleine in meinem Hotelzimmer verbringen musste.
"Du scheinst viel Ablenkung zu haben. Vorhin hattest du Training und jetzt wirst du von mir genervt.", lachte er auf.
"Nerven würde ich das nicht gerade nennen. Ich würde eher sagen, dass ich sogar ziemlich froh bin, dass du mich nervst.", grinsend sah ich ihn an. "Ich wüsste nicht, was ich jetzt alleine machen würde. Womöglich auf dem Bett in diesem tristen, öden Hotelzimmer liegen und musikhörend an die Decke starren."
"Dann bin ich ja beruhigt, dass ich dich davor gerettet habe.", erwiderte er mein Lächeln, ehe wir in einer Stille versanken, die zwar nicht gerade peinlich, aber doch irgendwie unpassend war. Schnell schaute ich mich in dem kleinen Lokal um, um vielleicht auf eine lustige Situation zwischen zwei Menschen zu treffen, die ich hätte ansprechen und die die Stimmung somit ein wenig heben können. Doch zu meinem Leid blieb so eine Entdeckung auch nach dem zweiten Mal suchen aus.
"Was ich dich noch fragen wollte - wie sieht es bei dir eigentlich mit den Trainingszeiten aus? Wir proben die ersten zwei Wochen erst alleine und die letzte Woche dann erst mit den anderen Tänzern zusammen. Das heißt wir können uns die Zeit so einteilen, wie wir wollen."
"Aber nicht um Mitternacht.", unterbrach ich ihn schnell und versuchte ihn schon jetzt davon abzuhalten, mir vorzuschlagen zu trainieren, wenn alle anderen Tänzer die Schule verlassen hatten.
"Nein, keine Angst. Aber einmal würde ich es gerne mit dir ausprobieren. Nur, um das feeling zu genießen, ja?"
"Okay. Wahrscheinlich wirst du mich noch dazu bringen, das für jede Trainingsstunde einzuführen.", lachte ich auf.
"Wer weiß, wie du dich entscheiden wirst. Zwingen werde ich dich jedenfalls nicht.", beruhigte er mich.
"Na Gott sei Dank.", dankbar lächelte ich ihn an und schaute sofort wieder verlegen auf mein Colaglas. Ich wusste nicht, was sich hier gerade entwickelte, doch es fühlte sich gut an. Vor allem tat es mir gut, dass ich jemanden hatte, mit dem ich reden konnte. So sehr reden konnte, dass ich gar nicht mitbekam, wie oft mein Handy in meiner Sporttasche eigentlich klingelte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 03 ⏰

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