Kapitel 29

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"Wenn du magst, kannst du für heute Schluss machen.", rief Mary mir mit ihrem Akzent von ihrem Stuhl aus zu, als ich in einer Endpose stehen blieb und auf den Boden blickte. Erschöpft ließ ich meine Schultern hängen und holte das ein oder andere Mal tief Luft, um meine Lungen endlich wieder weitestgehend zu füllen und die Luftzufuhr zu bekommen, die ich eigentlich benötigte, um nicht mit blauen Lippen und blassen Wangen senkrecht umzukippen. "Danke, wir sehen uns dann morgen wie immer hier?", noch ein wenig unsicher, ob sich nicht doch noch was ändern würde, kratzte ich mir verlegen an meinem Hinterkopf. Meine Haare spannten, da sie zu fest in einem Dutt zusammengebunden waren, sodass ich schon das Gefühl bekam, die Kopfhaut würde sich mit samt meinen Haaren von meinem Kopf lösen. "Ja, wie immer, Darling.", winkte Mary, meine Trainerin mir noch einmal zu und verließ dann lächelnd den Raum. Als ich sie beim Herausgehen beobachtete, sah ich wieder, wie smart sie lief. Ich bewunderte sie für ihre elegante Haltung und die sanften Bewegungen, die sie auch außerhalb des Balletts und des Tanzens hatte. Es kam einem schon nahezu so vor, als würde sie wie eine Feder vom Wind getrieben über den Boden schweben. Doch ich war nicht nur auf das neidisch - eigentlich war ich auf so viel neidisch, was sie hatte und was ich niemals haben würde. Schließlich tanzte sie mit Ende zwanzig schon beim Royal Ballett, war eine - für ihr Alter - angesehene und oft gefragte Tänzerin; sie hatte einfach Ahnung von dem, was sie tat und wusste alles so umzusetzen, dass es perfekt und stimmig aussah. Es war ein Augenschmaus für jedermann sie tanzen zu sehen. Seufzend rappelte ich mich aus meiner Starre hoch und klaubte meine Trainingstasche zusammen, um den doch etwas längeren Weg zu den Umkleidekabinen in Angriff zu nehmen. Zwar war ich mittlerweile schon drei Tage hier in der Ballettschule und wurde das ein oder andere Mal zu den Kabinen geführt, jedoch waren die Gänge und die Schule insgesamt so pompös und mit der Schule in Hamburg gar nicht zu vergleichen, weswegen ich öfters meinen Kopf anstrengen musste, um wirklich den richtigen Weg zu gehen und letzten Endes nicht an genau der falschen Ecke im absolut falschen Trakt anzukommen. Auch heute hatte ich das Gefühl, dass ich wieder einmal den falschen Weg ging und die Türen mir zwar bekannt, aber dennoch nicht vertraut vorkamen. Sie sahen alle gleich aus, doch allein die Nummer für den richtigen Trakt, die auf den Schildern neben den Türen angebracht war, war die total falsche. "Mist.", fluchte ich und strich mir einmal über meine glatt nach hinten gesteckten Haare. Schon wieder kurz vor der Verzweiflung stehend, lehnte ich mich gegen eine der hellen Wände. Wenn nur jemand hier wäre, der mir sagen könnte, wo ich lang musste - doch dies war um diese unnatürliche Zeit von spät abends leider nicht mehr der Fall, auch nicht an einer solch großen Akademie. Womöglich musste ich mich damit abfinden, dass ich die Nacht hier verbringen muss. Zwar würde ich am nächsten Morgen mit einem unbrauchbaren Kater aufwachen, dennoch könnte ich länger schlafen und war schon an meinem Arbeitsplatz, um sofort anfangen zu können. "'Tschuldigung, kann ich dir helfen?", ich schreckte hoch, quiekte schon fast auf und schlug meine flache Hand reflexartig gegen meine stark pochende Brust. Die männliche Stimme, die zu meiner Verwunderung deutsche Worte mit sich brachte, hallte noch immer in den hohen Gängen wider. "Ich wollte dich nicht erschrecken." - da war sie wieder, weswegen ich mich nach kurzem Luftholen langsam, aber dennoch bedacht darauf, der Person, die hinter mir stand, mit Abstand gegenüberzutreten, umdrehte. "Ich...es ist schon okay.", ich hob meinen Kopf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, der in einer Jogginghose und einem viel zu großen Pullover vor mir stand. Nicht allein sein Aussehen ließ mich erraten, dass es sich womöglich und höchstwahrscheinlich um einen Tänzer handeln musste, auch die Sporttasche, die er geschultert hatte und sein Befinden hier in dieser Schule sprachen dafür. "Kann ich dir helfen? Du siehst ein wenig, na ja, sagen wir hilflos aus?!", lachte er, woraufhin sich sofort sanfte Lachfalten in seinem Gesicht bildeten. Die Grübchen an seinen Wangen waren mir schon vorher aufgefallen und die Bartstoppeln, die sein Gesicht dunkler wirken ließen, verliehen ihm einen geheimnisvollen Touch. "Eigentlich suche ich meine Umkleidekabine. Aber ich glaube, die liegt in einem ganz anderen Trakt.", peinlich berührt blickte ich in die braunen Augen, die mich für einen Moment unaufhörlich an Bill erinnerten. "Oh, da hast du Recht - die liegen wahrlich ganz woanders. Soll ich dir eben den Weg zeigen? Ich wollte sowieso gerade dorthin.", zwinkerte er auf eine unglaublich sympathische Art und Weise. Eigentlich hätte ich ein solches Zwinkern in diesem Zusammenhang unentwegt als etwas Draufgängerisches und Unsympathisches, fast schon Abwertendes abgestempelt, doch zu diesem jungen Mann passte es seltsamerweise wie die Faust aufs Auge. "Ich bin übrigens Ben.", stellte er sich vor und wies mir mit einer Geste in die Richtung zu gehen, aus der ich gekommen war."Claire. Und danke, dass du mir hilfst. Ich bin noch ein Frischling und so großes Terrain nicht gewohnt.", lachte ich ein wenig, um die Stimmung, die ich trotzdem nicht als angespannt bezeichnen würde, zu lockern. "Ich merke das schon. Außerdem echt unglaublich, dass ich eine deutschsprachige Tänzerin antreffe. Von wo kommst du?", interessiert beäugte er mich, während wir nebeneinander die großen Gänge entlang schlenderten, als würden wir durch die Innenstadt gehen und einen Schaufensterbummel genießen. "Aus Hamburg. Ich bin vor vier Tagen angekommen und seit drei Tagen hier, um zu tanzen.", erklärte ich ihm. "Und selbst?""Unglaublicherweise komme ich auch aus Hamburg, aber ich bin schon seit knapp acht Jahren hier. Ich war 17 als meine Eltern aus beruflichen Gründen nach London gegangen sind und ich deswegen hier gelandet bin. Ich nehme an, du bist dann die glückliche Ballerina vom Vortanzen von Karsten und Darcey?", kurz blieb er stehen, um mir eine große, schwere Flügeltür aufzuhalten. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich eine solche geöffnet, geschweige denn gesehen hatte. Jetzt war ich wohl erst auf dem komplett richtigen Weg. "Ja, sie waren bei einer Premiere in Hamburg und haben entschieden, dass ich vortanzen und letzten Endes hierher kommen darf.", glücklich lächelte ich. Das Gespräch verlieh mir die Ablenkung, die ich in den ganzen Tagen, die ich nun schon hier war, brauchte. Zwar telefonierte ich jeden Tag mindestens einmal mit Bill und hatte auch mit den anderen dauernden SMS-Kontakt, doch trotzdem war das Vermissen und die Sehnsucht nach Deutschland da. Irgendwie erhoffte ich mir zwischenzeitlich sogar ein wenig mehr von dem Gespräch mit Ben - schließlich war er der erste richtige Deutsche, dem ich hier über den Weg gelaufen bin und mich ein wenig an meine Heimat erinnerte. Ich mochte ihn, auch wenn ich ihn höchstens fünf Minuten kannte - das Bauchgefühl war seit der ersten Sekunde an da und dazu auch noch positiv zu deuten."Dann hoffe ich, dass du dich mit mir als Tanzpartner anfreunden kannst.", lachte er plötzlich auf, riss mich somit aus meinen Gedanken und blieb vor einer Tür stehen. Wir schienen da zu sein."Wir tanzen zum Schluss zusammen auf der großen Bühne?", grinste ich erfreut, während Ben mit verschränkten Armen vor mir stand und nickte. "Cool, ich freu mich!""Ich mich auch. Ich habe schon mit den schlimmsten Zicken gerechnet und mich damit angefreundet, vier schlimme Wochen vor mir zu haben.", lachte er."Ich hoffe, ich konnte dich mit meinem ersten Auftreten ein wenig beruhigen.", zwar lachte ich, dennoch meinte ich den Satz genauso ernst, wie seine Bedeutung sein sollte. "Aber auf jeden Fall.", er stoppte kurz und sah auf seine Uhr am Handgelenk, bevor er meiner Meinung nach viel zu schnell wieder ernst wurde. "Tut mir leid, aber ich muss los, sonst schaff ich es heute nicht mehr zu trainieren.""Jetzt noch? Hast du mal auf die Uhr geschaut?", verwirrt blickte ich zu ihm. "Ja, aber wenn keiner mehr die Übungssäle besetzt und alles ruhig ist, lässt es sich am besten tanzen.", versicherte er mir und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich schneller an diese Umstellung gewöhnen musste, als mir lieb war. "Ich komme morgen mal vorbei und schau dir beim Training zu. Raus findest du doch alleine, oder?", zwar nickte ich, doch trotzdem erklärte er mir in einem Satz den Rückweg ins Freie - vorsichtshalber so, wie er es nannte."Viel Erfolg und bis morgen.", leicht hob ich meine Hand, als er sich von mir entfernte und sah ihm solange hinterher, bis er in der nächsten Tür verschwunden war, um sich für sein abendliches, fast schon nächtliches Training umzuziehen. Ich war urplötzlich glücklich und der Schmerz des Vermissens war unglaublich schnell verschwunden. So schnell, dass es mir als Außenstehender vielleicht schon Angst machen würde.

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