Kapitel 03

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Aufgeregt lief ich vor dem Bühnenaufgang hin und her, hielt meine Zeige- und Mittelfinger jeweils rechts und links an meine Schläfe und ging mit dem Blick gen Boden gerichtet noch mal meine ganze Choreographie durch. Ich machte mich wieder einmal selbst verrückt - anders konnte man das Ganze gar nicht mehr nennen. Und meine beste Freundin war mir wieder einmal, wie nicht anders zu erwarten, ziemlich behilflich bei der ganzen Sache.
"Oh Gott, ihr werdet schon angesagt.", jaulte Cape und schlug ihre Hände im Sekundentakt über ihrem Kopf zusammen, während sie ununterbrochen um meinen Tanzpartner Joel und mich herum lief. "Ich glaube, ich bin mindestens genau so aufgeregt wie du; wenn nicht sogar mehr! Und ach ja, Liebes, guck, ob du Bill Kaulitz sichten kannst, während du tanzt. Ich versuche mich neben ihn zu setzen, vielleicht kann ich ja ein Gespräch mit ihm anfangen, oder so. Und dann finde ich raus, wer seine nette Begleitung ist und spreche ihn dezent unauffällig auf dich an.", hechelte meine Freundin mit hochrotem Kopf.
"Cape, hol erst mal Luft.", ermahnte ich sie. Sofort tat sie, was ich ihr sagte, und sah mich erwartungsvoll und mit schief gelegtem Kopf an. "Ich werde sicher nicht auf ihn achten; ich habe hier eine Premiere zu tanzen, die mir ziemlich am Herzen liegt und die für mich sehr wichtig ist.", kurz stoppte ich, um Luft zu holen. "Und außerdem wirst du dich nichtneben ihn setzen und versuchen ein Gespräch aufzubauen, sondern deinen Blick auf mich und Joel richten, und uns beim Tanzen zusehen, weil dieser nette Herr Kaulitz von null Bedeutung ist, hast du mich verstanden?", wo meine ersten Worte noch danach klangen, als würde ich mit einem 5-jährigen Kind reden, nutzte ich mein doch ziemlich großes Lungenvolumen dann letztendlich doch aus, holte tief Luft und schrie ihr die letzten Worte schon nahezu ins Gesicht.
"Claire! Ab-" "Nichts aber. Mensch, Cape, mir ist das Ganze hier ziemlich wichtig und das weißt du, und genauso weißt du, dass ich mit diesem Jungen nichts mehr zu tun haben will. Er hat mich damals genug verletzt.", ich hüpfte von dem einen auf das andere Bein und schüttelte meine Arme noch einmal aus. Meinen Kopf hatte ich schon längst auf die drei Stufen gerichtet, die auf die große Bühne führten; ich spürte, dass es losging.
"Ich weiß, aber wir reden da später noch mal drüber. Viel Glück, Liebes.", lächelnd umarmte sie mich. Sofort war meine genervte Miene verschwunden und ich lächelte ihr zurück, als wäre das Gespräch vor einigen Sekunden nie da gewesen. Bevor Cape sich zum Gehen wand, drückte sie Joel noch einen Kuss auf die Wange, hob ihre Hand und verschwand letztendlich mit einer winkenden Geste. Noch ehe ich hier hinterher schauen konnte, zog Joel mich auf die Bühne: Es ging los!

Tosender Beifall, gefolgt von standing ovations. Strahlende Gesichter blickten mir entgegen, als ich mit der ganzen Gruppe auf der Bühne stand, zum Rand ging und mich vor dem Publikum verbeugte. Ich wusste nicht, wie viel Adrenalin sich in meinem Körper breitmachte, aber ich hatte das Gefühl auf Grund einer Überdosis durchdrehen zu können. Ich musste mich zusammenreißen, nicht vor Glückshormonen zu platzen oder gar laut aufzuschreien; es war unbeschreiblich.
Lächelnd ließ ich meinen Blick durch die Reihen schweifen und rang nach Atem, der mir wegen der Anstrengung und Überwältigung fast wegblieb. Zerknirscht dachte ich an die Zigarette am Vorabend, während ich jeden einzelnen Gast, Reihe für Reihe ansah und letztendlich bei meiner besten Freundin, mittig der dritten Reihe hängen blieb. Stolz wie Oskar stand sie da, klatschte in die Hände und strahlte bis über beide Ohren. Wir sahen uns in die Augen und ich wusste, dass sie mehr als stolz auf mich war. Ihre Augen sprühten nur so vor Glück, bis...ja, bis sie ihren Kopf zur Seite drehte und ihren Nebenmann mit dem Ellenbogen anstieß und mit den Lippen ein sie ist wunderbar formte. Ich folgte ihrem Blick und erblickte ihn. Den Menschen, der mir meine Jugend zur Hölle gemacht hat und mich jetzt begeistert nickend und klatschend von unten herab ansah. Einmal hatte ich das Gefühl eine höhere Position zu haben, als er. Und einmal fühlte ich mich, trotz Schock in dort sitzen zu sehen, gut. Ich hatte den ganzen langen Auftritt vermieden ins Publikum zu sehen, aus Angst in sein Gesicht zu blicken. Doch ich wusste, dass das gut tuende Gefühl hier oben zu stehen, schneller verschwinden würde als mir lieb war. Sobald ich die erste Stufe hinter der Bühne herunter treten würde, fühlte ich mich wie früher - unterlegen.
Und so war es dann auch: Joel zog mich hinter die Bühne, die Treppen hinunter und ich hätte mich sofort in meine Garderobe zurückziehen können. Aber natürlich musste ich mich von jedem beglückwünschen lassen.
"Gott, du warst bezaubernd, Darling.", kam meine Trainerin auf mich zugelaufen und drückte mir rechts und links einen Kuss auf die Wange. "Fabelhaft, wirklich fabelhaft! Wenn du dich umgezogen hast, komm doch bitte ins Foyer. Ich denke, da würden dir noch einige andere zu deiner gelungenen Premiere gratulieren wollen.", und schon war sie wieder verschwunden und Bill Kaulitz in meinem Kopf und vor meinem inneren Auge. Eigentlich wie so oft, doch heute war es anders; heute schien alles noch viel näher bei mir zu sein. Es fühlte sich an, als wäre es gestern gewesen.
"Claire, du warst die Beste.", ich erschreckte und sah Joel mit ausgebreiteten Armen auf mich zukommen.
"Ich denke, das kann ich nur zurückgeben, mein Lieber.", lächelte ich und drückte ihn an mich.
"Ich muss mich umziehen, aber wir telefonieren und klären bei Gelegenheit ab, wann wir auf diesen Erfolg hier anstoßen, ja? Muss ja keiner mitbekommen, dass wir Alkohol konsumieren.", lachend zwinkerte Joel mir zu und verschwand auch schon in seiner Garderobe. Schmunzelnd schüttelte ich meinen Kopf und machte mich auch auf den Weg, um mich umziehen zu können und dem nachzugehen, was mir meine Trainerin zuvor noch nahegelegt hatte.
Gedankenverloren pellte ich mich aus meiner Strumpfhose und zog mir das Kleid aus. Bill Kaulitz, Bill Kaulitz...immer und immer wieder hallten die Worte, die er mir früher gegen den Kopf geknallt hatte in meinen Gedanken wider. Ich konnte nicht verstehen, was er hier tat, wieso er mich lächelnd und klatschend ansah, als wären wir alte und vor allem gute Bekannte. War es die gute Miene zum bösen Spiel? Wenn ja, dann kam er damit bei genau der Falschen an.


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