Kapitel 04

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Noch immer konnte ich mir das Dasein des Frontsängers - ich wollte mir seinen Namen schon gar nicht mehr denken, geschweige denn über meine Lippen bringen -, erklären. Die ganze Zeit über bekam ich es nicht auf die Reihe eine Sekunde nicht darüber nachzudenken und mir den Kopf zu zerbrechen, weswegen ich trotz der vielen Glückwünsche im Foyer des Theaters immer und nur noch ihn in meinem Kopf hatte. Es war absurd, ich hasste ihn, er sollte verschwinden; und abgesehen davon konnte er mich auch nicht leiden. Zumindest hatte er genau das früher immer und immer wieder mehr als gut und auch genug bewiesen.
"Claire.", eine aufgebrachte Caprice durchquerte in schnellen Schritten den großen Empfangsbereich und umarmte mich so stürmisch und schnell, dass mir meine Tasche von der Schulter rutschte und letztendlich auf dem Fliesenboden landete. "Du warst entzückend. Einfach klasse. Wirklich...ich bin so stolz auf dich, Liebes. Einfach bezaubernd, mensch!", euphorisch strich sie mir über meine Wange und drückte mich noch dreimal fest an sich, was ich regungslos über mich ergehen ließ. Ich konnte nur von Glück reden, dass alle Gäste und Zuschauer bereits gegangen waren und der Raum wie leer gefegt war, denn die Tonlage, die meine beste Freundin an den Tag legte, war kaum auszuhalten und sogar - in anbetracht dessen, dass eigentlich gar keiner mehr im Raum war - trotzdem peinlich.
"Cape, es ist gut. Danke.", gab ich matt zurück und drehte mich noch mal um meine eigene Achse, um einen weiteren prüfenden Blick durch den Raum zu werfen. "Lass uns nach Hause gehen."
"Aber Claire, was ist denn los? Ich muss dir noch was erzählen und geben.", ein wenig enttäuscht und die Unterlippe nach vorne schiebend blickte meine beste Freundin mich an.
"Da reden wir zu Hause drüber und jetzt komm.", brummte ich sauer und ging voraus in die kalte Abendluft. Kurz blieb ich stehen und versuchte wenigstens für den Nachhauseweg die Gedanken an ihn zu vertreiben, indem ich einmal kurz mit dem Kopf schüttelte und meine Haare raufte. Dass das nicht klappte war ja eigentlich schon im Voraus klar gewesen, nur wollte ich mir genau das nicht eingestehen. Dazu kam, dass Caprice mich die ganzen zwanzig Minuten, die wir wegen der Entscheidung zu Fuß zu laufen auf uns genommen hatten, anschwieg, und mich nicht eines Blickes würdigte. Irgendwie kam das schlechte Gewissen in mir auf, doch trotzdem kämpfte ich dagegen an, es rauszulassen und meinen Mund zu öffnen, um mich zu entschuldigen. Sie hatte es mit ihrem Handeln verbockt.
Und so kam es, dass wir immer noch schweigend unsere Wohnung betraten und in dem großen Wohnzimmer, mit angrenzender Küche, die nur durch eine große Theke von dem Wohnbereich getrennt wurde, unsere Taschen ablegten und jeder nach einer Flasche Wasser auf der Arbeitsplatte griff.
Leise und fast schon vorsichtig setzte ich mich auf einen der Barhocker vor der Theke und beobachtete sie, wie sie einen nach dem anderen Schlug begierig aus der Flasche trank. Ich hasste diese Stille zwischen uns, hasste es, wenn wir nicht redeten, wenn wir getrennt waren und keinen Kontakt hatten. Diese Stille machte mich nahezu taub und trotzdem war mein Ego größer als dieses dumme Gefühl, welches sich in mir breit machte.
Während sie ihre Flasche unter den Arm steckte und ihre Tasche von einem der Stühle von dem großen Esstisch im Wohnzimmer angelte, wurde ich langsam unruhig. Hatte sie nicht vor, mich anzusprechen oder sich eventuell für ihr Handeln im Theater zu entschuldigen? Ich verstand sie nicht, schließlich wusste sie ganz genau, wie ich diesen Jungen hasste und dass ich ebenso nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
"Bevor ich es vergesse, Claire.", ihre euphorische und nur vor Glück strahlende Stimme hatte mittlerweile einen monotonen Klang angenommen, was mich noch unsanfter als ohnehin schon aus meinen Gedanken riss. Sofort sah ich auf und beobachtete sie dabei, wie sie in ihrer Handtasche wühlte. "Er hat es mir gegeben und meinte, dass ich es dir unbedingt geben soll; wenn nicht würde er mich finden und mir das Leben zur Hölle machen.", sie streckte ihren Arm aus, um mir den kleinen, zerknüllten Zettel, den sie aus ihrem Portmonee herausgekramt hatte, zu geben. Erstaunt und ein wenig skeptisch zugleich, sah ich sie an.
"Was ist das?", rutschte es mir auch schon heraus, als Caprice schon fast aus dem Raum verschwunden war. Im Türrahmen stehend sah sie mich an. "Lies es und tu, was drauf steht. Wenigstens heute, vielleicht denkst du ganz anders, wenn du dir angehört hast, was er zu sagen hat.", wieder trat sie einen Fuß vor den nächsten und ich hörte schon die Türklinke, die sie heruntergedrückt hatte, als ihre Stimme ein weiteres Mal durch die hellhörige Wohnung wanderte. "Und nein, ich habe den Zettel nicht gelesen, falls du das auch noch von mir denkst. Wir haben uns unterhalten und es liegt ihm ziemlich am Herzen, dich sprechen zu können.", ein darauffolgendes Klacken der Tür lies mich erneut und wahrscheinlich zum hundertsten Mal in diesen wenigen Minuten, die wir zu Hause waren, zusammenzucken.
Skeptisch rümpfte ich meine Nase und sah auf den Zettel, den ich zwischen meinen Fingern hielt. Ich sah, dass ich zitterte und versuchte es sofort zu unterdrücken; dass das jedoch nicht so einfach war, ärgerte mich mehr, als alles andere, was gerade passiert war. Wieso zitterte ich, wenn ich einen Zettel in meinen Händen hielt, der von ihm kam und wieso war ich nur so neugierig das zu lesen, was darauf stand?
Meine Gedanken schweiften an den Tag zurück, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. An den Tag, als sein Bruder mir meine Tasche von der Schulter gerissen und meine Klamotten herausgenommen hatte. In mir brodelte es und jegliches Gefühl der Aufregung war wie von der einen auf die andere Sekunde verschwunden. Ich verstand mich selbst nicht, wieso ich solche dämlichen Gefühlsschwankungen hatte, dass ich das Gefühl hatte, jeder Gedanke würde eine riesige Achterbahn in meinem Kopf fahren und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie wieder beim Start angekommen und eine Runde somit vorbei war, damit alles wieder von vorne beginnen konnte - verdammter Teufelskreis.
Polternd hüpfte ich von dem kleinen Hocker, schmiss ihn dabei fast um, und lief um den Tresen, um den Mülleimer aufzumachen und den Zettel in eben jenem zu versenken. Ebenso laut folgte das Zuknallen der Schranktür, woraufhin ich mich seufzend und mit der Hüfte und den verschränkten Armen vor der Brust an die Arbeitsplatte lehnte. Schwer atmete ich tief ein und aus und fing an, nervös und voller Wut in meinem Bauch an meinen Fingern zu knabbern. Das konnte doch nicht sein. Erst machte er mir das Leben zur Hölle, dann tauchte er ab, wurde zu einem Star, und dann tauchte er wieder und total unverhofft auf und war wieder dabei, mein Leben zur Hölle machen, oder wie sollte ich das alles verstehen? Wahrscheinlich konnte ich erst verstehen, was er von mir wollte, wenn ich den Zettel auseinander geknüllt und ihn gelesen hatte. Aber sollte ich das wirklich tun?
Langsam drehte ich mich wieder um und sah die Schranktür an, hinter der sich der Mülleimer befand. Total in einem Zwiespalt gefangen, ging ich einen Schritt vor, einen wieder zurück, einen wieder vor und blieb, mit der Hand an dem Türgriff und in die Knie gegangen, vor der Tür hocken. Langsam zog ich die Tür auf und sah in den Mülleimer, um sofort den weißen Zettel herauszunehmen und ihn auseinander zu knüllen.

Ich denke, du weißt noch wer ich bin, Claire. Wunder dich nicht, dass ich bei einer Ballettaufführung war, aber denk bloß nicht, dass ich immer noch so darüber denke, wie früher. Ich weiß, dass du mich hasst und mich verabscheust, aber ich will dich sehen, will dir alles erklären. Komm um Mitternacht in den Park bei dir um die Ecke, bitte. Achso...sei Caprice bitte nicht böse; ich habe sie zugegebenermaßen gezwungen, dir den Zettel zu überreichen und mir zu sagen, wo ihr wohnt, damit ich weiß, wo man sich treffen kann. Bill.

Wieder zitterten meine Hände unaufhörlich und mein Herz fing an zu klopfen. Was sollte das? Ich wusste nicht, ob es vor Nervosität und Neugierde, was er mir wohl zu erzählen hatte, oder aber vor Wut, was er sich eigentlich erlaubte und einbildete, dass er mir solch eine Nachricht ausrichten ließ, als würden wir jahrelange und beste Freunde sein, war.Was ging hier vor?

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