20 Beide haben recht

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Den restlichen Lehrgang empfand Tom tatsächlich wie eine Art Urlaub, und er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, das ihn mit jedem Anruf in Griechenland mehr bedrückte. Besonders Xenia und Sophia fanden kaum noch Schlaf, weil an den Universitäten täglich Aktionen zu organisieren und immer häufiger auch gefährdete Studenten und Studentinnen in Sicherheit zu bringen waren. Etliche wurden während der Demonstrationen verhaftet, noch viel mehr exmatrikuliert, aber der Widerstand fand immer breitere Unterstützung.

Ende Februar wurde eine erste Besetzung der juristischen Fakultät nach Verhandlungen zwischen der Regierung und den Studenten beendet, auf deren Seite Sophia beteiligt war. Als das Regime die Zusage, die Einberufungen aufgefallener Studenten rückgängig zu machen, nicht einhielt, weiteten sich die Unruhen auf alle Hochschulen aus. Das Organisationskomitee beschloss, die Fakultät wieder zu besetzen, wogegen Sophia mit wenigen anderen stimmte, weil sie eine Eskalation der Gewalt befürchtete. Trotzdem half sie natürlich bei der Organisation der Aktion.

Nikos musste die Kontakte zu den Libyern, Ägyptern und Syrern allein pflegen und gab sich alle Mühe, die Lücken nachzuarbeiten, die seine Fehlzeiten an der Uni gerissen hatten. Er telefonierte über Basilis' Geheimtelefon jedes Wochenende mit Tom, der dann meistens in Bonn war, und übermittelte bei der Gelegenheit auch Nachrichten für Fred und Bilski, die auf diese Weise erfuhren, dass sich in Griechenland die Dinge immer näher auf eine Entscheidung zubewegten.

Dave hatte in Derry auch alle Hände voll zu tun. Es liefen Geheimverhandlungen, um den Konfliktparteien in Nordirland die Londoner „Lösung", also Wahlen, schmackhaft zu machen, weswegen er ständig Nachrichten hin und her übermittelte. Hinzukam, dass Anfang März ein Referendum über den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich abgehalten wurde, das im Sinne des Verbleibs ausfiel, was zu einer erneuten Zunahme der Gewalt führte. Die Lage in Derry war so explosiv, dass er sich nur selten in die Stadt traute. Einmal kamen Phil, Hans und Reiner zu Besuch, was ihn wieder etwas aufrichtete.

Tom hingegen hatte es gut erwischt. Mit den Leuten in seiner Ausbildungsgruppe kam er gut aus. Sie lernten zwar jeden Abend treu und brav Vorschriften auswendig, aber sie hatten keinen Druck, weil an dem Lehrgang genau so viele Soldaten teilnahmen, wie hinterher als Panzerkommandanten benötigt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, nicht zu bestehen, war also minimal.

Einen absoluten Schockmoment erlebte er, als er Ende Februar erfuhr, dass eine libysche Passagiermaschine, die aufgrund eines Sandsturms den Kairoer Flughafen verfehlt hatte und in den Luftraum über der Sinai-Halbinsel geraten war, von den Israelis abgeschossen worden war. Über hundert Menschen waren umgekommen, auch der Pilot. Er telefonierte am Abend mit Nikos, der in dem libyschen Laden erfahren hatte, dass Stavros nicht an Bord gewesen war. Trotz der Erleichterung, dass ihr Freund lebte, spürte Tom eine ungeheure Wut. Und er schwor sich, seine libysche Uniform sofort an den Nagel zu hängen, sollte jemals die libysche Armee etwas ähnlich Abscheuliches tun.

In der vorletzten Woche fuhren die angehenden Panzerkommandaten zu Schießübungen nach Bergen-Hohne und besuchten am letzten Tag das KZ Bergen-Belsen. Ein Führer erklärte ihnen, wo welche Gebäude gestanden hatten, und welche Verbrechen dort verübt worden waren. Besonders ergriffen war Tom von der Weitläufigkeit des Geländes, einer riesigen Rasenfläche mit wenigen kleinen Hügeln. Überall standen schmucklose Gedenktafeln, die nichts weiter als die Anzahl der getöteten Menschen angaben. Manche Zahlen hatten vier Stellen. „Menschen wie Avis Familie," dachte Tom.

Diese schlichte Art der Gedenkstätte nahm ihn viel mehr mit als die protzigen Denkmale der Soldatenfriedhöfe in Libyen und Ägypten. Ganz anders als an den Vortagen, als sie die Schießübungen am Abend in den Baracken mit ausufernden Parties begossen, war die Rückreise nach Handorf eine sehr stille Veranstaltung. Viele seiner Kollegen standen politisch ähnlich links wie Tom, aber auch die wenigen, die die Verdienste der Wehrmacht priesen und fanden, unter der Nazi-Herrschaft sei nicht alles schlecht gewesen, wurden nachdenklich. Der Ausbildungsleiter sah es mit großer Befriedigung. Es war ihm wichtig, seinen Soldaten zu zeigen, welche Schuld die Wehrmacht und das ganze Volk auf sich geladen hatte.

Die richtigen Leute Band 10: Land der Oliven und ZitronenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt