10 Um Kopf und Kragen

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Nicht nur Tom war heilfroh, als es bei der Befehlsausgabe hieß, das Kettenwechseln würde ausfallen. Es regnete immer noch, aber nach der Dienstplanänderung würden sie den ganzen Tag im Trockenen sitzen. Zwei Stunden Theorie, dann Politische Bildung und nachmittags Schießkino, Innere Führung und Waffenreinigen.

Als sie nach der Pause in den Hörsaal kamen, zeigte Klaus auf die Wandkarte, die neben der Tafel aufgehängt war und befahl Tom:

„Wir sitzen ganz hinten, und Du hältst Deinen Mund."

Es war zu spät. Hinten war alles besetzt. Aber aus der ersten Reihe war die Nahost-Karte ohnehin besser zu sehen.

„Männer, Sie wissen, dass wir in der letzten Lehrgangswoche in das KZ Bergen-Belsen fahren," begann der Ausbildungsleiter. „Ich will, dass Sie sehen, was passiert, wenn Leute wie wir Leuten wie dem österreichischen Maler hinterherlaufen. Heute beschäftigen wir uns mit den Langzeitfolgen, die so etwas hat."

Tom fand, der Hauptmann erläuterte die Entwicklung in Palästina im 20. Jahrhundert anhand der Landkarte absolut sachlich. Der Lehrgangsleiter hielt einen spannenden Vortrag, dessen letzter Teil natürlich dem Sechstagekrieg von 1967 gewidmet war, den sie alle ganz gut in Erinnerung hatten. Die israelische Armee genoss seitdem höchsten Respekt für ihre Cleverness und Effizienz. Die erste Hälfte der anschließenden offenen Fragestunde drehte sich dementsprechend auch um diesen Feldzug.

Dann meldete sich Tom trotz eines Ellbogenstoßes seines besorgten Nachbarn zu Wort:

„Herr Hauptmann, Sie haben gesagt, die UNO hat 1947 beschlossen, dass beide, Juden und Muslime, einen eigenen Staat bekommen. Warum gibt es keinen Palästinenserstaat?"

„Ist doch klar," meldete sich eine Stimme aus der letzten Reihe. „Weil die Palästinenser dauernd Anschläge verüben. Das sind doch Terroristen."

Tom drehte sich nach hinten und antwortete trotz eines Schienbeintritts:

„Vielleicht machen die Palästinenser die Anschläge, weil ihnen ein eigener Staat verwehrt wird."

„Die Frage nach der Henne und dem Ei," moderierte der Hauptmann. „Gefreiter Tom, meinen Sie, die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern würde aufhören, wenn es einen Palästinenserstaat gäbe?"

„In Palästina herrschen seit 1947 ununterbrochen Krieg und Vertreibung," antwortete Tom. „Palästinenser leben seit mehr als 20 Jahren in Lagern in Syrien, Jordanien oder dem Libanon. Seit 1967 herrscht im Westjordanland, das völkerrechtlich Jordanien gehört, auf dem Golan, der juristisch Syrien gehört, und im Sinai und Gazastreifen, die eigentlich Ägypten gehören, Besatzungsregime.

Die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind völlig rechtlos, auch die in den Lagern sind staatenlos. Wenn jetzt ein Palästinenserstaat gegründet würde, gäbe es eine große Völkerwanderung, und das führt natürlich zu neuen Konflikten. So ein Staat allein wird nicht reichen, die Gewalt zu beenden, zumal die Palästinenser untereinander auch zerstritten sind."

Es war mucksmäuschenstill. Der Kompaniechef schmunzelte:

„Sie scheinen sich auszukennen in der Gegend. Wollen Sie vielleicht weitermachen?" Er hielt Tom den Zeigestock hin.

Tom lehnte nach einem weiteren Ellenbogenstoß seines Sitznachbarn dankend ab:

„Nein, danke. Ich kenne ein paar Leute, die daher kommen, Araber und Israelis. Sprechen Sie mit einem Israeli, können Sie ihm hundertprozentig zustimmen. Sprechen Sie mit einem Palästinenser, stellen Sie fest, er hat genauso recht. Es ist doch nur eine Frage der Zeit, wann der Krieg wieder offen ausbricht."

„Sind Sie nicht ein bisschen zu pessimistisch, Gefreiter?" fragte der Hauptmann.

„Ich glaube nicht. Ich würde gerne die Geschichte von zwei meiner Freunde erzählen, als Beispiel."

Die richtigen Leute Band 10: Land der Oliven und ZitronenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt