Kapitel 2

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Die ersten Wochen an der Universität vergehen wie im Flug. Mein Alltag besteht aus einer endlosen Reihe von Vorlesungen, Seminaren und Studierstunden, und ich beginne, mich langsam in der neuen Umgebung einzuleben. Die Stadt ist groß und aufregend, voller neuer Eindrücke, die mir helfen, die Schatten der Vergangenheit vorübergehend zu verdrängen. Das hohe Tempo des Stadtlebens, die geschäftigen Straßen und das ständige Rauschen der Menschenmassen schaffen eine Art Pufferzone, die mich vor all den schmerzhaften Erinnerungen schützt, die ich in meiner kleinen Heimatstadt zurückgelassen habe.

Es ist ein typischer Dienstagmorgen, und ich mache mich auf den Weg zur Universität. Die Sonne scheint, und der Himmel ist strahlend blau, die Luft frisch und klar. Der Campus ist ein herrlicher Ort, umgeben von alten Bäumen und historischen Gebäuden, die in der Morgensonne glänzen. Ich genieße den Weg zur Universität und lasse mich von der Schönheit des Campus einfangen, während ich meine Gedanken auf den bevorstehenden Tag konzentriere.

Die Literaturvorlesung ist wie immer eine willkommene Ablenkung. Die Diskussion über die Klassiker und die tiefgründigen Interpretationen fesseln mich, und ich lasse mich von den Worten des Professors mitreißen. Die Zeit vergeht schnell, und als der Professor das Ende der Stunde ankündigt, fühle ich mich erfrischt und bereit, die nächste Herausforderung anzugehen.

Ich packe meine Sachen zusammen und sehe mich in dem fast leeren Hörsaal um. Die meisten Studenten haben bereits den Raum verlassen. Gerade als ich mich erhebe, um ebenfalls zu gehen, höre ich eine vertraute Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Emma?“ Die Stimme klingt so, wie ich sie in Erinnerung habe, warm und gleichzeitig voller Erinnerungen.

Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ich drehe mich langsam um. Da steht er – Ryan. Er sieht mich an, und ich spüre, wie sich die Welt um mich herum verengt. Seine Anwesenheit hier, an dieser Universität, in diesem Raum, ist wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube. Er wirkt älter, reifer, als ich ihn in Erinnerung habe. Sein Gesicht zeigt Spuren der Zeit und der Erfahrung, aber seine grünen Augen sind noch die gleichen – tief und unergründlich.

„Ryan“, sage ich leise, unfähig, meinen Schock zu verbergen. „Was machst du hier?“

Er lächelt unsicher, und ich kann sehen, dass er genauso überrascht ist wie ich. „Ich studiere hier“, erklärt er. „Schon seit dem letzten Semester.“

„Das ist… unerwartet“, sage ich, während ich versuche, meine Gedanken zu sortieren. Der Schock über seine Anwesenheit macht es mir schwer, klare Gedanken zu fassen. „Ich wusste nicht, dass du hier bist.“

„Ja, ich hätte es dir vielleicht sagen sollen“, sagt er und schiebt die Hände in die Taschen seiner Jacke. „Ich wollte dich nicht überraschen. Ich wusste nicht, dass du hier studierst.“

Die Worte schwingen in der Luft, und ich spüre, wie sich die alte Wut, die ich so lange zurückgehalten habe, wieder ihren Weg an die Oberfläche bahnt. „Es ist schon eine Weile her, Ryan“, sage ich schärfer, als ich beabsichtige. „Warum jetzt, an diesem Ort, wieder mit mir sprechen?“

„Ich verstehe, wenn du wütend bist“, sagt er, und ich sehe, wie er sich bemüht, seine Emotionen zu kontrollieren. „Aber ich wollte nicht, dass unsere letzte Erinnerung so bleibt.“

„Unsere letzte Erinnerung?“ frage ich, und die Bitterkeit in meiner Stimme ist nicht zu überhören. „Du bist einfach gegangen. Ohne ein Wort, ohne eine Erklärung. Was hätte ich erwarten sollen?“

„Es war nicht einfach“, sagt er, und ich erkenne die Verletzlichkeit in seinem Gesicht. „Es war komplizierter, als du denkst.“

„Komplizierter?“ wiederhole ich. „Du hast keine Ahnung, wie kompliziert es für mich war, als du plötzlich nicht mehr da warst. Die Leere, die du hinterlassen hast, war nicht nur kompliziert – sie war zerstörerisch.“

Sein Gesicht zeigt eine Mischung aus Schmerz und Reue. „Emma, ich… ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte das nicht so enden lassen. Aber ich wusste nicht, wie ich zurückkommen sollte, wie ich das wieder gutmachen könnte.“

„Es ist zu spät“, sage ich und merke, wie mein Herz schneller schlägt. „Was geschehen ist, lässt sich nicht einfach zurückdrehen.“

Er seufzt tief und sieht mich an, als wolle er etwas sagen, aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. „Vielleicht hast du recht“, sagt er schließlich. „Vielleicht ist es wirklich zu spät, um das vergangene Kapitel noch einmal aufzuschlagen.“

Ich sehe ihn an, versuche, die Wut und den Schmerz zu kontrollieren, die sich in mir aufbauen. „Ich muss gehen“, sage ich schließlich und wende mich zur Tür. „Ich habe noch eine Vorlesung.“

„Warte“, sagt er und macht einen Schritt auf mich zu. „Könnten wir vielleicht… vielleicht einmal in Ruhe sprechen? Ohne die ganze Geschichte von damals im Kopf?“

„Ich weiß nicht“, sage ich, und mein Herz fühlt sich schwer an. „Es ist… ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin, darüber zu sprechen.“

„Verstehe“, sagt er, und ich sehe die Enttäuschung in seinen Augen. „Wenn du willst, bin ich hier. Du kannst mich jederzeit anrufen.“

„Vielleicht“, sage ich und lasse ihn mit diesen Worten zurück. Ohne ihm eine weitere Gelegenheit zu geben, folge ich dem Weg aus dem Hörsaal und hinaus in den kühlen, klaren Tag.

Draußen nehme ich einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen. Die Stadt um mich herum lebt weiter, als wäre nichts geschehen, als ob sich nichts verändert hätte. Doch ich fühle mich, als hätte sich der Boden unter meinen Füßen verschoben. Es war ein Fehler, ihn hier zu treffen, das weiß ich jetzt. Die Begegnung hat alte Wunden geöffnet, die ich eigentlich lieber verschlossen hätte.

Auf dem Weg zurück zum Campus spüre ich die Blicke der Passanten, höre das Geräusch der Stadt, aber alles erscheint mir plötzlich farblos und entfernt. Die alte, schmerzhafte Erinnerung an das Ende unserer Beziehung verfolgt mich, und ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob wir jemals wirklich einen Weg finden können, diese Vergangenheit hinter uns zu lassen.

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