Kapitel 36

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Am nächsten Morgen war der Himmel klar und die Sonne schien warm auf mein Gesicht, als ich das Wohnheim verließ. Die Luft war frisch und versprach einen angenehmen Tag. Ich hatte mir vorgenommen, den Tag zu nutzen, um meine Gedanken zu ordnen, aber ich wusste auch, dass ich Ryan nicht komplett ausblenden konnte – nicht nach allem, was geschehen war.

Meine erste Vorlesung war Geschichte, und obwohl das Thema spannend war, konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, und ich fand mich dabei, auf die Uhr zu starren, die Minuten zählend, bis die Vorlesung vorbei war. Der Professor sprach leidenschaftlich über die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, doch die Worte erreichten mich nicht wirklich.

Als die Vorlesung schließlich vorbei war, schnappte ich mir meine Sachen und machte mich auf den Weg zur Cafeteria. Es war Mittagszeit und der Campus war lebendig mit Studenten, die ihre Pausen genossen. Einige saßen im Gras und plauderten, andere eilten von einer Vorlesung zur nächsten. Die Atmosphäre war energiegeladen und doch fühlte ich mich seltsam isoliert, als ob ich in meiner eigenen kleinen Welt gefangen wäre.

In der Cafeteria war es wie immer laut und geschäftig. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach frisch gekochtem Essen, und das Summen der Gespräche füllte den Raum. Ich entdeckte Mia an einem Tisch in der Nähe der großen Fensterfront und ging auf sie zu.

„Hey,“ sagte ich, als ich mich zu ihr setzte.

„Hey, Emma,“ begrüßte sie mich mit einem warmen Lächeln. Vor ihr stand ein Teller mit einem Salat, den sie gedankenverloren durchmischte. „Wie war deine Vorlesung?“

„Interessant,“ antwortete ich und log dabei ein bisschen, denn in Wahrheit konnte ich mich kaum an ein Wort erinnern. „Aber ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren.“

Mia nickte verstehend. „Das habe ich mir fast gedacht. Du wirkst heute ein bisschen abwesend.“

Ich seufzte und griff nach einem Apfel, den ich in meiner Tasche hatte. „Ich kann einfach nicht aufhören, über alles nachzudenken. Ryan, die Vergangenheit, die Zukunft... es ist einfach alles zu viel.“

Mia lehnte sich zurück und musterte mich aufmerksam. „Es ist okay, sich verwirrt zu fühlen, Emma. Das ist eine schwierige Situation, und du musst nicht sofort eine Lösung finden. Aber vielleicht hilft es, wenn du dir erlaubst, einfach zu fühlen, was auch immer du fühlst.“

„Das versuche ich ja,“ sagte ich und biss in den Apfel. Der saftige Geschmack half mir, mich ein wenig zu entspannen. „Aber es ist nicht so einfach. Es fühlt sich an, als würde ich zwischen zwei Welten feststecken – zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte.“

Mia nickte nachdenklich und starrte für einen Moment aus dem Fenster. „Vielleicht solltest du versuchen, einen Schritt zurückzutreten und dir die Situation von außen anzusehen. Was würdest du jemandem raten, der in deiner Position ist?“

Ich dachte darüber nach und kaute langsam auf meinem Apfel. „Ich denke, ich würde ihm raten, sich Zeit zu nehmen und nichts zu überstürzen. Es ist wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein und herauszufinden, was man wirklich will.“

Mia lächelte und nickte. „Das klingt nach einem guten Ratschlag. Und ich bin sicher, dass du am Ende die richtige Entscheidung treffen wirst.“

„Hoffentlich,“ murmelte ich und legte den Apfel beiseite. „Es ist einfach schwer, wenn so viel auf dem Spiel steht.“

Bevor Mia antworten konnte, hörte ich ein bekanntes Geräusch. Eine tiefe Stimme, die ich überall erkannt hätte. Ich drehte mich langsam um und sah Ryan, der gerade mit einem seiner Freunde in die Cafeteria kam. Er wirkte entspannt, fast als ob nichts passiert wäre, aber als sich unsere Blicke trafen, veränderte sich seine Miene. Ein Hauch von Unsicherheit blitzte in seinen Augen auf, bevor er sich schnell wieder abwandte und mit seinem Freund zur Essensausgabe ging.

„Er ist auch hier?“ Mia flüsterte, obwohl ihre Stimme vor Überraschung deutlich zu hören war.

„Ja,“ sagte ich leise und wandte mich wieder meinem Essen zu, obwohl mein Appetit schlagartig verschwunden war. „Ich wusste nicht, dass er zur gleichen Zeit wie wir hier ist.“

Mia warf einen flüchtigen Blick zu Ryan und senkte dann wieder ihre Stimme. „Willst du mit ihm reden?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich einfach abwarten und sehen, was passiert.“

„Das ist vielleicht das Beste,“ stimmte Mia zu. „Du musst das nicht überstürzen. Aber wenn du bereit bist, weißt du, dass ich für dich da bin.“

„Danke,“ antwortete ich dankbar und zwang mich zu einem schwachen Lächeln. „Ich schätze das wirklich.“

Wir aßen den Rest unserer Mahlzeit in relativem Schweigen, jeder von uns in Gedanken versunken. Meine Gedanken drifteten immer wieder zu Ryan ab, und ich fragte mich, was er wohl gerade dachte. Ob er genauso unsicher war wie ich, oder ob er einfach nur versuchte, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, beschloss ich, eine Weile draußen zu spazieren, um den Kopf freizubekommen. Mia begleitete mich, und wir schlenderten gemütlich über den Campus, während die Sonne hoch am Himmel stand und alles in ein warmes Licht tauchte. Die Gespräche um uns herum waren entspannt, und es war eine willkommene Abwechslung von den schweren Gedanken, die mich bedrückten.

„Es tut gut, mal rauszukommen,“ sagte ich schließlich und atmete tief die frische Luft ein.

Mia lächelte. „Ja, das tut es. Und denk daran, du musst das nicht allein durchstehen. Wir werden einen Weg finden, der für dich richtig ist.“

„Ich hoffe es,“ antwortete ich leise und ließ meinen Blick über die grünen Wiesen und die alten Gebäude des Campus schweifen. Es war ein schöner Ort, und obwohl ich manchmal das Gefühl hatte, hier nicht ganz reinzupassen, wusste ich, dass ich hier meine eigene Zukunft gestalten konnte.

Und vielleicht, dachte ich bei mir, konnte ich auch einen Weg finden, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und einen Neuanfang zu wagen. Aber für den Moment würde ich einfach Schritt für Schritt gehen, ohne mich selbst zu sehr unter Druck zu setzen. Denn manchmal war das Wichtigste, sich Zeit zu nehmen und auf das eigene Herz zu hören.

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