Kapitel 1

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Die Stadt, in der ich jetzt lebe, ist ein komplettes Gegenteil meiner Heimatstadt. Hier gibt es keine endlosen Maisfelder oder staubigen Straßen, die sich meilenweit durch die Landschaft ziehen. Stattdessen ragen hohe Gebäude in den Himmel, und der Lärm der Stadt hallt ununterbrochen durch die engen Straßen. Es riecht nach Abgasen und frisch gebrühtem Kaffee, und die Luft vibriert vor Leben. Die Universität liegt mitten in diesem Trubel, ein wunderschöner alter Campus mit roten Backsteingebäuden und grünen Alleen, die wie aus einer anderen Zeit wirken.

Ich binde mein langes, dunkelblondes Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz und werfe einen Blick in das Schaufenster eines kleinen Buchladens, an dem ich gerade vorbeigehe. Mein Spiegelbild schaut mir mit einer Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit entgegen. Meine blauen Augen, die früher oft unsicher wirkten, strahlen jetzt einen Hauch mehr Selbstbewusstsein aus. Die letzten drei Jahre haben mich verändert – ich bin nicht mehr das schüchterne Mädchen, das sich von den Blicken der anderen verunsichern ließ. Meine schlanke Gestalt ist unter der weiten, grauen Strickjacke kaum zu erkennen, die ich über ein einfaches weißes T-Shirt geworfen habe. Bequem und unauffällig, genau so, wie ich es mag.

Ich gehe weiter, lasse mich vom Treiben der Stadt treiben. Hier bin ich anonym, ein Gesicht unter Tausenden. Es ist befreiend, niemand kennt meine Geschichte, niemand weiß, was ich durchgemacht habe. Das alte Leben, das ich in unserer kleinen Stadt zurückgelassen habe, scheint hier wie ein ferner Traum, eine Erinnerung, die immer weiter verblasst.

Doch manchmal, wie in diesem Moment, drängt die Vergangenheit wieder an die Oberfläche, unaufgefordert und unerwünscht. Als ich an einem kleinen Café mit einer charmanten, altmodischen Fassade vorbeikomme, entscheide ich mich spontan, hineinzugehen. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee und Gebäck strömt mir entgegen, als ich die Tür öffne. Innen ist es warm und gemütlich, eine willkommene Flucht vor der Hektik draußen.

Ich wähle einen Tisch in der hintersten Ecke, nahe einem großen Fenster, das auf die belebte Straße hinausgeht. Von hier aus kann ich die vorbeigehenden Menschen beobachten, während ich einen Moment zur Ruhe komme. Das Café ist ruhig, die Gespräche der anderen Gäste sind gedämpft, und eine sanfte Jazzmusik spielt im Hintergrund. Es fühlt sich sicher an, fast wie eine kleine Oase inmitten des Großstadtchaos.

Als die Kellnerin meinen Kaffee bringt, nicke ich ihr dankbar zu und lasse meinen Blick wieder nach draußen wandern. Die Sonne steht tief, wirft lange Schatten auf das Kopfsteinpflaster und taucht alles in ein warmes, goldenes Licht. Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und spüre, wie sich die Wärme in mir ausbreitet.

Ich versuche, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, auf das neue Leben, das ich mir aufbauen will. Die Uni ist ein frischer Start, eine Chance, endlich das zu werden, was ich sein möchte, ohne die Last der Vergangenheit. Doch die Gedanken an Ryan drängen sich mir immer wieder auf, wie Geister, die nicht ruhen können. Ich frage mich, wo er jetzt wohl ist. Was er wohl macht. Ob er jemals darüber nachgedacht hat, was zwischen uns passiert ist.

Ich schüttle den Kopf und zwinge mich, diese Gedanken zu verdrängen. Es bringt nichts, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Stattdessen sollte ich nach vorne schauen, auf das, was vor mir liegt. Doch genau in diesem Moment, während ich meinen Blick wieder zum Fenster lenke, sehe ich ihn. Oder besser gesagt, ich sehe seinen Rücken.

Eine schlanke Gestalt in einer dunklen Lederjacke geht an dem Café vorbei. Die Art, wie er sich bewegt, der leicht gebeugte Gang – für einen Moment glaube ich, dass es Ryan ist. Mein Herz setzt einen Schlag aus, und ich halte die Luft an. Aber dann verschwindet die Gestalt im Strom der anderen Passanten, und ich schüttele den Kopf. Es kann nicht er sein. Diese Stadt ist weit entfernt von unserem alten Zuhause, und es gibt keinen Grund, warum er hier sein sollte. Es war nur ein Zufall, ein Trugbild, das mein Verstand mir vorgespielt hat.

Ich atme tief durch, versuche, das schnelle Klopfen meines Herzens zu beruhigen. Es war nicht Ryan. Es konnte nicht Ryan sein. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass die Vergangenheit näher ist, als ich es mir eingestehen will. Als ob sie mich immer noch verfolgt, egal, wie weit ich laufe.

Ich beende meinen Kaffee, bezahle und verlasse das Café. Draußen ist die Luft kühl und klar, der Himmel in ein tiefes Blau getaucht. Ich ziehe meine Jacke enger um mich und mache mich auf den Weg zurück zum Campus, entschlossen, mich auf das Neue zu konzentrieren, das vor mir liegt. Und doch, tief in mir, bleibt der Gedanke, dass man vor manchen Dingen nicht einfach weglaufen kann – selbst in einer Stadt wie dieser, wo alles anonym und neu ist.

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