Kapitel 1
Sami saß im Halbdunkeln seiner winzigen Wohnung. Er hatte die Knie angezogen und die Arme um sich geschlungen. Die Stille war schwer und dicht wie ein Nebel, der sich in jede Ecke seines Zimmers und seines Inneren legte. Erinnerungen schoben sich wie Schatten durch sein Bewusstsein, lautlos und bedrückend. Eine scharfe Stimme, kühle Blicke. Ein schleichendes Gefühl: Er würde niemals genügen - nicht für sie, und schon gar nicht für sich selbst.
Verrat hatte sich als Grundstein in seine Seele gebrannt. Menschen, denen er vertraut hatte, hatten ihn zerbrochen, Stück für Stück, bis er kaum mehr wusste, wer er war. Die Jahre der Gleichgültigkeit und die Wunden, die jene, die ihn geliebt hatten, zurückließen, hatten ihn gelehrt, sich unsichtbar zu machen. Er versteckte sich hinter Mauern aus Schweigen und Misstrauen. Gefühle waren gefährlich geworden. Man zeigte sie nur, wenn man bereit war, alles zu verlieren.
Dennoch war er hier, in dieser Stadt, in der Fremde, die ihm eine seltsame Art von Sicherheit bot. Keine Verpflichtungen, keine Erwartungen. Nur er, seine Gedanken und diese endlose, erdrückende Einsamkeit.
Ein Klopfen riss ihn aus seiner Dunkelheit.
Er war eingeladen worden, zu einer Lesung eines bekannten Schriftstellers – Nathan Delcourt. Er wusste nicht genau, warum er zugesagt hatte. Vielleicht hatte er an die Einladung geklammert wie an einen Rettungsring. Es war eine absurde Hoffnung. Vielleicht gab es da draußen etwas, das ihn zurück ins Leben holen könnte. So zog er mechanisch seine Jacke an, verließ das Apartment und verschwand in die Nacht.
Der Raum war überfüllt und das Licht gedämpft. Überall standen Menschen, die flüsternd auf den Beginn der Lesung warteten. Sami stellte sich abseits, halb verborgen hinter einer Säule, die Hände tief in den Taschen vergraben. Er fühlte sich wie ein Eindringling, fehl am Platz und unsicher, was er hier suchte.
Dann betrat Nathan die kleine Bühne. Groß, aufrecht, mit durchdringenden Augen, die ruhig über die Menge glitten. Er begann zu lesen. Seine tiefe, gleichmäßige Stimme erfüllte den Raum. Sie schuf eine schwere, hypnotische Atmosphäre. Sami war sofort gefesselt. Etwas in ihm rührte sich. Es war ein zaghaftes Aufbegehren in all der Starre und Kälte seines Inneren.
Nathan sprach über Sehnsucht, das Gewicht der Vergangenheit und unsichtbare, tief verwurzelte Wunden. Es war, als ob er jede Faser von Samis Geschichte in Worte kleidete. Als ob er all die unterdrückten Schreie seiner selbst laut aussprach. Sami konnte nicht wegsehen. Zum ersten Mal seit Langem fühlte er sich gesehen, wenn auch nur durch Worte.
Als die Lesung endete und der Applaus leiser wurde, wandte sich Nathan um. Seine Augen glitten kurz über die Menge, bis sie an Sami hängen blieben. Ein Lächeln spielte um Nathans Lippen. Es war kaum merklich, aber da. Es drückte Neugier aus oder vielleicht etwas Tieferes, das Sami nicht deuten konnte. Sekunden verstrichen. In diesen Sekunden schien die Luft zwischen ihnen zu vibrieren. Es war eine ungesagte Verheißung.
Bevor er es realisierte, stand Nathan plötzlich vor ihm. "Hat Ihnen die Lesung gefallen?" fragte er ruhig, eine leichte Neugier in seinem Blick.
Sami wich instinktiv seinem Blick aus. Er suchte nach Worten, doch es kam nur ein leises, unsicheres: „Ja." Sehr."
Nathan nickte. In seinen Augen lag ein warmes Verständnis. Es war, als hätte er die Distanz gespürt, die Sami so verzweifelt zu wahren versuchte. „Manchmal ist es einfacher, in der Stille das zu finden, was Worte nie sagen können." Nathan murmelte es fast.
Für einen Moment standen sie sich gegenüber. Zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch, es fühlte sich an, als würden sie dieselbe Sprache sprechen: die Sprache der Stille und der Narben.
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Whisper of the Scars
Romance⚠ Trigger Warnung ⚠ Diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Sie entführt dich in die dunklen Abgründe der Seele, wo Schmerz, Sehnsucht und Angst ein gefährliches Spiel treiben. Inhalte, die dich triggern könnten: Tiefe emotionale Isolation...