Kapitel 22

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Nathan hielt Sami noch immer im Blick, seine Augen ruhig und wachsam. Sami war sich bewusst, wie leicht dieser Moment in sich zusammenfallen könnte – wie eine zerbrechliche Illusion. Doch er zwang sich, gegen die Zweifel anzukämpfen, die an ihm nagten.

„Also, das Wochenende," sagte Sami schließlich, und sein Ton war gezwungen leicht. „Vielleicht können wir rausfahren. Ein bisschen Abstand von... allem hier."

Nathan nickte, sein Lächeln nur schwach. „Abstand klingt gut."

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte etwas in Nathans Augen auf – etwas wie eine flüchtige Distanz, die Sami beunruhigte. Es war anders als die schützende Hülle, die Nathan manchmal um sich errichtete. Diesmal wirkte es wie ein Abschied, als wäre er bereits mit seinen Gedanken woanders.

„Ist irgendwas?" fragte Sami. Er versuchte, ruhig zu klingen, obwohl ihm die innere Anspannung anzumerken war.

Nathan sah zu ihm auf und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein, nichts. Ich denke nur nach."

Doch die Worte klangen wie eine Ausrede, und Sami fühlte die vertraute Unsicherheit aufsteigen. Er entschied, sie herunterzuschlucken und ein letztes Mal das Wochenende mit Nathan in unbeschwerter Zweisamkeit zu versuchen.

Am Samstagmorgen fuhren sie in die Berge. Das Radio spielte leise, während sie in die dichten Wälder eintauchten. Die Fahrt verlief größtenteils schweigend, beide in ihren Gedanken versunken. Sami beobachtete Nathan aus dem Augenwinkel, wie er mit der linken Hand das Lenkrad hielt und abwesend aus dem Fenster schaute. Ein Anflug von Verzweiflung stieg in ihm auf, das Gefühl, sich immer noch nicht sicher sein zu können.

Als sie den kleinen See erreichten, an dem sie übernachten wollten, war der Himmel bedeckt, die Luft kühl und schwer. Sie packten ihre Sachen aus und begaben sich auf einen Wanderweg, der in eine dichte Waldlandschaft führte.

„Hast du das Gefühl, dass wir hierher passen?" fragte Nathan schließlich. Seine Stimme klang seltsam fern.

Sami hielt inne. „Hierher? In die Berge?"

Nathan schüttelte den Kopf, als würde er nach Worten suchen. „Nein. Ich meine, dass wir... wir beide, zusammen. Passen wir in dieses Leben, das wir führen?"

Samis Herzschlag beschleunigte sich. „Worauf willst du hinaus?"

Nathan blieb stehen, das Gesicht abgewandt. „Ich weiß nicht, Sami. Manchmal habe ich das Gefühl, wir klammern uns an etwas, das... nie wirklich zu uns gehört hat."

Diese Worte trafen Sami tief. „Willst du mir sagen, dass das alles bedeutungslos ist?"

„Nein, das meine ich nicht. Ich... ich frage mich nur, ob wir beide das Gleiche suchen."

Ein Schweigen trat zwischen sie, das von den Bäumen um sie herum widerhallte. Die Kälte des Waldes schien sich zwischen sie zu legen, die Distanz greifbar zu machen.

Als die Dämmerung hereinbrach, saßen sie am Ufer des Sees. Nathan starrte auf das Wasser, während Sami neben ihm saß, die Arme um die Knie geschlungen. Der Moment, der so viel Ruhe hätte bringen können, lastete nun schwer auf ihnen.

Schließlich wandte Sami sich Nathan zu. „Du traust mir immer noch nicht, oder?"

Nathan seufzte und legte den Kopf in die Hände. „Ich weiß nicht, ob es nur dir gilt oder... ob ich einfach verlernt habe, anderen zu vertrauen."

Sami spürte, wie ihm eine Mischung aus Wut und Enttäuschung die Kehle zuschnürte. „Dann sag mir, was ich noch tun muss. Woran hänge ich fest, Nathan? Wie kann ich dir das Gefühl geben, dass ich echt bin?"

Nathan sah ihm ins Gesicht, und zum ersten Mal spürte Sami etwas wie Widerstand in seinem Blick. „Vielleicht geht es nicht nur um dich, Sami," sagte er leise. „Vielleicht suche ich etwas, das ich selbst nicht definieren kann. Etwas, das ich nicht in dir finden kann."

Die Worte schlugen wie ein Hammerschlag ein. Sami sah Nathan an, und für einen Moment brodelte eine ungezügelte Wut in ihm. „Dann hättest du mir das vorher sagen sollen," flüsterte er, seine Stimme vor unterdrücktem Zorn zitternd. „Ich habe dir geglaubt, Nathan. Ich dachte, wir..."

„Es ist nicht so einfach," unterbrach Nathan ihn scharf. „Manchmal... manchmal will ich es glauben, Sami. Dass das hier richtig ist. Aber dann sind da diese Schatten, diese Zweifel... und sie werden lauter, jedes Mal, wenn ich versuche, sie zu ignorieren."

Sami sprang auf, der Zorn, die Frustration ließen ihn nicht mehr still sitzen. „Also waren all diese Nächte, all die Worte... nur ein Versuch für dich? Ein Test, um zu sehen, ob das hier real ist?"

Nathan sah auf, seine Augen kalt und abweisend. „Vielleicht. Vielleicht war es ein Versuch, zu verstehen, was ich überhaupt will. Vielleicht... war ich nie ehrlich zu dir, Sami. Nicht einmal zu mir selbst."

Die Worte zogen Sami den Boden unter den Füßen weg. Ein tiefes Gefühl von Verrat überkam ihn, etwas, das sich wie purer Hass anfühlte. Er drehte sich abrupt um und ging schnellen Schrittes in den Wald, den schmalen Pfad entlang, der sich in die Dunkelheit schlängelte. Hinter ihm hörte er, wie Nathan seinen Namen rief, doch Sami ignorierte es. Die Wut und der Schmerz ließen ihn nicht umkehren.

Erst nach einer Stunde kehrte Sami zum See zurück. Nathan stand am Ufer und starrte schweigend auf das Wasser. Als er das Knirschen der Kiesel unter Samis Schritten hörte, wandte er sich langsam um.

„Es tut mir leid, dass ich nicht klarer war," sagte Nathan mit leiser Stimme.

Sami blieb stehen, die Hände in den Taschen vergraben. „Entschuldigung? Nach allem, was du gesagt hast, ist das alles, was du mir geben kannst?"

Nathan sah ihm in die Augen. „Sami... ich habe Fehler gemacht, das weiß ich. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich plötzlich weiß, wie es weitergeht."

„Weißt du was, Nathan?" Sami sah ihm fest ins Gesicht. „Vielleicht gibt es keine Fortsetzung. Vielleicht sollten wir beide aufhören, uns etwas vorzumachen."

Sie standen sich gegenüber, und eine eisige Kluft hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Nathan sagte nichts, sondern sah nur zu Boden. Schließlich nickte er schwach.

„Vielleicht hast du recht."

Whisper of the ScarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt