Sami spürte, wie ihm die Worte fehlten, ein unangenehmes Gefühl des Entblößtseins überkam ihn. Er hätte am liebsten den Blick abgewendet, das Weite gesucht, aber Nathans Augen hielten ihn fest. Es war, als könnte dieser Mann mit einem einzigen Blick die Wände um Samis Seele durchdringen und alles zu erkennen, was er verzweifelt verbarg.
„Sami", sagte er leise und räusperte sich. Er war unsicher, wie viel er von sich preisgeben sollte, oder ob das hier überhaupt einen Sinn hatte.
„Sami", wiederholte Nathan nachdenklich, als würde er den Namen schmecken wollen. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Es freut mich, dich kennenzulernen."
Sami nickte nur. Er fühlte sich wie ein Kind, das zum ersten Mal Vertrauen lernte. Gleichzeitig hatte er Zweifel, ob es sicher war, zu vertrauen. Seine Augen wanderten nervös über den Raum. Er suchte einen Fluchtweg aus diesem unerwarteten, fast intimen Moment.
„Falls du Lust hast, dich auszutauschen... "Gespräche helfen, sich selbst besser zu verstehen." Nathan sprach leicht, fast spielerisch. Es war ein Angebot, das Sami annehmen oder ablehnen konnte. Er griff in seine Jackentasche und reichte Sami eine kleine, schlichte Visitenkarte.
Sami starrte die Karte an, die ihm nun, wie ein Geschenk vorkam – gleichzeitig ein Schlüssel und eine Bürde. Für einen Moment zögerte er, doch schließlich nahm er die Karte vorsichtig zwischen zwei Finger und nickte. „Vielleicht" murmelte er, ohne zu wissen, was er wirklich meinte. Vielleicht würde er sich melden. Vielleicht würde er die Karte verlieren. Vielleicht war dies nur ein Moment, der bald wieder verblasste.
Aber die Wärme in Nathans Blick blieb in seinem Gedächtnis haften.
Sami ging mit der Visitenkarte in der Hand zurück in sein Apartment. Die Leere des Raums umhüllte ihn wie ein alter, abgenutzter Mantel. Er setzte sich aufs Bett. Er starrte auf die Karte in seiner Hand. Er überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, hinzugehen. Was, wenn Nathan kein Interesse an ihm hatte? Was, wenn er nur höflich war? Ein beklemmendes Gefühl kroch in ihm hoch, und er spürte den Drang, die Karte einfach wegzuwerfen.
Doch seine Finger schlossen sich nur noch fester um das kleine Stück Papier. Irgendetwas in Nathans Augen hatte ihn berührt. Es war eine vertraute, unerklärliche Tiefe. Er wusste nicht, warum, aber er spürte, dass dieser Mann irgendwie anders war.
In dieser Nacht lag er lange wach, das Licht gedämpft, die Karte neben ihm auf dem Nachttisch. Fragen kreisten in seinem Kopf. Erinnerungen an Nathans Worte während der Lesung hallten nach. Sie schienen sich in seinen Gedanken verankert zu haben.
Zwei Tage vergingen, in denen Sami wie ein Schatten durch seine Welt schlich. Er besuchte seine Schichten im Café. Er erledigte die Aufgaben mechanisch und sprach nur das Nötigste mit den Gästen. Doch immer wieder glitten seine Gedanken zurück zu Nathan. Zu der Frage, was es bedeuten würde, jemandem wie ihm zu vertrauen.
Am dritten Abend, als die Dämmerung über die Stadt zog, nahm er die Karte und tippte zögerlich die Nummer in sein Handy. Sein Daumen schwebte über dem „Anrufen"-Button. Sein Herz pochte, als wollte er eine nie gewagte Grenze überschreiten.
Nach einem tiefen Atemzug drückte er auf „Anrufen". Nach wenigen Sekunden hörte er Nathans Stimme am anderen Ende. Sie war warm, ruhig und voller Interesse.
„Sami? Ich freue mich, dass du anrufst."
Sami schluckte und suchte nach Worten. „Ja, äh... ich... dachte, vielleicht könnten wir reden. Irgendwo, wo... wo es ruhig ist." Seine Stimme klang leise, beinahe scheu, und er hasste es, wie verletzlich er sich fühlte.
„Natürlich" antwortete Nathan sanft, ohne eine Spur von Ungeduld. „Morgen Abend? Es gibt einen kleinen Park am Fluss, nicht weit von der Altstadt. Er ist um diese Zeit meist leer. Vielleicht können wir uns dort treffen?"
Sami nickte, obwohl Nathan es nicht sehen konnte. „Ja... das klingt gut."
Der Park am Fluss war in eine Dämmerung getaucht, die alles in weiche, verschwommene Schatten hüllte. Sami kam etwas zu früh. Er setzte sich auf eine Bank und sah gedankenverloren auf das leise Plätschern des Wassers. Es war eine seltsame, friedliche Stille. Doch, sein Inneres zog sich in Erwartung zusammen.
Nach einigen Minuten hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Nathan kam langsam näher, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, das etwas Beruhigendes an sich hatte. Ohne Eile setzte er sich neben Sami, ließ ihm den Raum, den er offensichtlich brauchte.
„Schön, dass du gekommen bist", sagte Nathan leise und schaute ihn an, ohne jedoch in ihn zu dringen. „Wie fühlst du dich?"
Sami starrte auf das Wasser und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich weiß es nicht... Es ist komisch, jemanden zu treffen, nur um... zu reden." Er machte eine Pause, wählte die Worte vorsichtig. „Ich bin nicht gut darin."
Nathan nickte, als ob er das bereits wusste. „Manchmal sind die einfachsten Dinge die schwersten," antwortete er ruhig. „Es muss auch nichts Ernstes sein. Vielleicht reicht es schon, einfach hier zu sitzen und den Moment zu teilen."
Diese Worte schienen eine Last von Samis Schultern zu nehmen. Sie saßen nebeneinander, in Gedanken versunken. Für einen Moment war die Stille angenehm. Nach einer Weile begann Sami zu sprechen – erst zögernd, stockend, dann flüssiger. Er sprach über das Gefühl der Einsamkeit, über die Jahre der inneren Kälte, ohne zu viele Details preiszugeben. Er sprach davon, wie schwer es war, anderen zu vertrauen, und wie sich Nähe oft wie eine Falle anfühlte.
Nathan hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn kein einziges Mal. Als Sami schließlich verstummte, ließ Nathan die Worte einen Moment in der Luft hängen. Dann antwortete er leise. „Ich verstehe, Sami. Und du musst dich nicht zwingen, etwas zu sagen, wofür du noch nicht bereit bist. Jeder hat seine eigene Geschwindigkeit."
Diese einfache Aussage traf Sami tief. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er sich in einem Gespräch nicht unter Druck gesetzt fühlte. Dass jemand ihm Raum ließ, ohne Forderungen zu stellen.
Sie blieben lange still. Als sie schließlich aufbrachen, fühlte Sami, wie sich ein winziges Stück der Mauer in ihm verschoben hatte.
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Whisper of the Scars
Romance⚠ Trigger Warnung ⚠ Diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Sie entführt dich in die dunklen Abgründe der Seele, wo Schmerz, Sehnsucht und Angst ein gefährliches Spiel treiben. Inhalte, die dich triggern könnten: Tiefe emotionale Isolation...