Kapitel 3

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Sami spürte die Ruhe noch in sich nachklingen, als er sich auf den Heimweg machte. Ein sonderbarer Friede hatte sich in ihn geschlichen. Er fühlte sich fast unwirklich, als ob er eine fremde Jacke übergestreift hätte, die ihm unerwartet gut passte. Zum ersten Mal seit Langem hatte er das Gefühl, dass ihm jemand wirklich zuhörte. Jemand, der nichts im Gegenzug verlangte. Dieses Gefühl war beängstigend und schön zugleich. Er ging durch die stillen Straßen. Er wollte, diese Momente mit Nathan einzuordnen, ohne sie zu analysieren.

Am nächsten Tag im Café war Sami gedankenversunken und abgelenkt. Sein Kollege Simon merkte es sofort. Er ließ ihn jedoch in Ruhe, nur ab und zu mit einem neugierigen Blick auf ihn. Den ignorierte Sami. Er spürte, dass sich etwas in ihm zu verändern begann. Die Begegnung mit Nathan hatte einen winzigen Riss in der Rüstung seines Herzens hinterlassen. Durch ihn sickerte nun ein neuer, leiser Gedanke.

Der Tag verging in einem gleichmäßigen, mechanischen Rhythmus. Kunden kamen und gingen. Sami begrüßte sie mit einer kühlen, reservierten Freundlichkeit. Die hatte er sich im Laufe der Jahre antrainiert. Doch immer wieder ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken zu Nathan zurückkehrten. Wie der Schriftsteller ihm zugehört hatte, ohne Druck. Er wollte weder seine Wunden heilen noch ihn belehren. Es war ein Gespräch gewesen, wie Sami es sich immer gewünscht, aber nie zu träumen gewagt hatte.

Am Abend, als die letzten Gäste gegangen waren und er die Tische abwischte, zog er das Handy aus der Tasche. Kurz starrte er auf die letzte Nachricht von Nathan. Es war eine kurze, ruhige Danksagung nach ihrem Treffen. Darin stand: "Ich freue mich, bald wieder von dir zu hören."

Sami wusste nicht, ob er bereit war, Nathan so bald wiederzusehen. Doch das Gefühl der Ruhe und des Vertrauens, das der Abend ihm gebracht hatte, war stärker als seine Zweifel. Ohne groß nachzudenken, schrieb er zurück: „Hast du morgen Abend Zeit? Vielleicht auf einen Kaffee?"

Er drückte auf „Senden" und steckte das Handy wieder ein. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und ein Schauer aus Nervosität und Spannung jagte ihm über die Haut. Sekunden später vibrierte sein Handy. „Sehr gern, Sami. Ich kenne ein kleines Café in der Nähe der alten Bibliothek. 19 Uhr?"

Sami nickte für sich selbst und antwortete nur mit einem knappen „Bis dann."

Am nächsten Abend machte er sich auf den Weg zu dem kleinen Café, das Nathan vorgeschlagen hatte. Es war ein unscheinbarer Ort, abseits der Hauptstraße. Dort standen schwere Holzmöbel. Die Atmosphäre erinnerte an eine vergangene Zeit. Die Luft roch nach frisch gebrühtem Kaffee und leichten Gewürzen. Sami fühlte sich sofort seltsam wohl.

Nathan saß bereits an einem Tisch in der Ecke, ein Buch vor sich aufgeschlagen, dass er gerade las. Als er Sami kommen sah, hob er den Kopf und schenkte ihm ein ruhiges, warmes Lächeln. Er schob das Buch zur Seite, stand auf und begrüßte ihn mit einem leichten Nicken.

„Schön, dass du gekommen bist," sagte Nathan, und in seiner Stimme lag eine Offenheit, die Sami beruhigte.

Sami setzte sich ihm gegenüber, die Hände in den Schoß gelegt. Für einen Moment fiel ihm nichts ein, was er sagen sollte, doch Nathan wirkte nicht ungeduldig. Er lehnte sich zurück und bestellte beiden Kaffee. Dann musterte er Sami mit einem neugierigen, aber zurückhaltenden Blick.

„Wie war dein Tag?" fragte Nathan schließlich. Es war, als wäre es das Natürlichste der Welt, hier mit Sami zu sitzen, in dieser ruhigen Ecke des Cafés.

„Ruhig" antwortete Sami kurz, und ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Das Café war wie immer voll, und trotzdem... ich habe viel an gestern gedacht."

Nathan nickte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Ich auch", erwiderte er sanft. „Es ist selten, dass ich das Gefühl habe, jemandem begegnet zu sein, der die Dinge... wirklich spüren kann."

Sami fühlte eine Welle des Unbehagens, aber auch des Verstehens. Es war, als würde Nathan genau wissen, welche Worte ihn berühren und welche Fragen ihn abschrecken würden. Der Schriftsteller fragte nicht nach Details, nach der Art von Nähe, die Sami so oft als Belastung empfand. Stattdessen ließ er Sami in seiner eigenen Geschwindigkeit reden.

„Früher..." begann Sami, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Früher dachte ich immer, dass es normal ist, sich in einer Welt zu bewegen, die kalt ist. Dass Nähe nur eine Art Tauschgeschäft ist, und dass es gefährlich ist, etwas anderes zu erwarten."

Nathan sah ihn nachdenklich an. In seinem Blick lag eine Sanftheit. Das ließ Sami zögernd fortfahren.

„Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt erzähle", fuhr Sami fort und wandte den Blick ab. „Vielleicht... vielleicht weil ich das Gefühl habe, dass du es verstehst."

Nathan lächelte leicht. Seine Stimme war ruhig. Er sagte: „Vielleicht, Sami, haben wir beide lange nach einer Wahrheit gesucht, die hinter der Einsamkeit steckt." Ich weiß, wie es ist, wenn Nähe nur eine... Funktion hat. Man gewöhnt sich daran. Aber manchmal begegnet man einem Menschen, der diese Vorstellungen ins Wanken bringt."

Sami spürte, wie seine Anspannung nachließ. Nathans Worte hallten sanft in ihm nach. Es tat gut, jemanden zu haben, der ihn verstand. Er musste seine Vergangenheit nicht im Detail erzählen. Es war, als würde Nathan die richtigen Worte wählen. Sie würden die unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen sichtbar machen.

Sie sprachen noch lange. Über Bücher, Filme, und Musik. Und über ihre kleinen Eigenheiten. Es waren einfache, unspektakuläre Gespräche. Doch, sie waren bedeutsam in ihrer Leichtigkeit. Nathan erzählte ihm von seinen Reisen. Er sammelte Geschichten, indem er das Leben in seinen Details beobachtete und speicherte. Sami hörte ihm fasziniert zu. Die Kälte in ihm zog sich zurück. Nathans Wärme hatte ihr keinen Platz.

Als sie das Café verließen und den nächtlichen Weg zurückgingen, war es unerwartet still zwischen ihnen. Es war eine Stille, die nicht drückte. Sie ließ Raum für das Ungesagte, das sich langsam zwischen ihnen entwickelte.

Am Ende des Weges blieben sie stehen. Nathan drehte sich zu ihm, seine Augen auf Samis Gesicht gerichtet. „Sami... ich will nichts überstürzen. Ich habe selbst genug Mauern, weißt du? Aber ich hoffe, dass wir uns wiedersehen."

Sami nickte. In ihm mischten sich Hoffnung und ein bisschen Angst. „Ja", sagte er leise. „Das hoffe ich auch."

Sie verabschiedeten sich mit einem kurzen Blick. Als Sami sich umdrehte und den Weg zu seinem Apartment nahm, fühlte er sich plötzlich seltsam leicht. Nathan hatte ihm, ohne es zu bemerken, einen Teil seiner Last abgenommen.

In dieser Nacht schlief Sami tief und traumlos, und zum ersten Mal seit langem lag ein Hauch von Frieden über ihm.

Whisper of the ScarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt