Keys #7

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„Wieso habt ihr mir das nicht gestern gesagt? Da war ich in der Stadt!", fragte ich genervt und rührte frustriert in meinem Müsli rum. Meine Mutter schenkte mir ihr berühmtes Jetzt-stell-dich-nicht-so-an-Gesicht und verdrehte die Augen, während Marian schadenfroh grinste und mein Vater sich auf einen Stuhl fallen ließ, mit seiner Kaffeetasse in einer Hand. „Weil wir da noch nicht wussten, dass wir das genau heute brauchen würden." Ich verdrehte die Augen. „Und wieso geht nicht ihr?" „Weil wir keine sechswöchigen Ferien haben.", sagte meine Mutter, es klang beinahe vorwurfsvoll und stapfte aus der Küche. Manchmal benahm sie sich wie ein Mädchen in der Pubertät. „Darf ich mit Kyy mit?", fragte Phips ganz begeistert und hoffnungsvoll. „Nein. Wir wollten doch ins Kino.", sagte Marian lächelnd, doch es klang gequält. Sie hatte das Gefühl, Phips mochte mich mehr, was eigentlich echt kindisch war. „Ich habe aber echt keine Lust in die überfüllte Stadt zu gehen, um etwas für euch zu besorgen." Mein Vater faltete seine Zeitung auseinander und ignorierte mich. „Beeil dich einfach.", meinte meine Schwester und in ihrem Ton schwang ein Statt dich so anzustellen mit. Ich stand auf und schüttete mein Müsli weg. Mir war der Appetit vergangen. Der Tag wurde gerade immer schlimmer. Ich hatte nicht einschlafen können, weil ich zu viele Gedanken im Kopf gehabt hatte, dann hatte ich komische Träume von rothaarigen Typen, Octavian und Blake gehabt und war um 3 Uhr schließlich aufgestanden, wo ich mir dann ein Buch und meine Kopfhörer geschnappt und the Raconteurs gehört hatte, während ich zum was weiß ich wie vielten Mal Himmelsfern las. Und jetzt wollten mich meine Eltern in die Stadt scheuchen, um eine bescheuerte Seife für meine Oma zum Geburtstag zu besorgen, weil sie unbedingt kurzerhand für eine Woche in die Karibik fliegen musste, mit ihrem Yoga Kurs. Konnte dieser Tag auch bloß noch ansatzweise schlimmer werden? Ich stellte meine Schüssel laut scheppernd in die Spüle und stapfte ins Bad hoch. Mein Schlaf-T-Shirt wurde von einem Sweatshirt ersetzt, nachdem ich es mir über den Kopf zog. Es war zwar Sommer, aber er war nicht gerade so herausragend, um in T-Shirt und Bermudashorts rumzurennen. Mit dem frischen Geschmack von Zahnpasta im Mund, ein wenig saubereren Körper und einer Jeans stapfte ich die Treppe wieder herunter und trat in das Atelier meiner Mutter, in dem sie mit einem Dutt stand, von dem die Hälfte der Strähnen etwas durcheinander heraus hingen, einer verwaschenen Boyfriend-Jeans, die sie schon hatte, seit ich denken konnte, einem karierten Hemden und einem alten Pullover meines Vaters darüber. „Bekomme ich Geld für die Seife?" Sie drehte sich um und ihre nackten Füße gaben tapsige Geräusche von sich. In der einen Hand hielt sie einen Pinsel, an dem ein Rotton schimmerte, der mit ihren lackierten Fingernägeln harmonierte, in der anderen Hand eine Palette mit Farben. Donovan lief und für einen Augenblick sah ich das junge Mädchen in ihr, in das mein Vater immer noch so verliebt war. Etwas glitzerte in ihren Augen, das zeigte, dass sie so viel jünger war, als die grauen Strähnen in ihren Haaren erahnen ließen. Sie lächelte mich an. „Natürlich." Leise stellte sie die Gegenstände in ihren Händen ab und suchte zwischen den Papierbögen mit Skizzen und Bleistifte in unendlich vielen Dicken und Härten rollten davon. Sie drückte mir zwanzig Euro in die Hand. „Du weißt ja, Rose oder Lavendel.", lächelte und war schon wieder in der Welt ihrer Bilder versunken. Leise schloss ich die Türe hinter mir. Ich wusste, dass sie sich in diesem lichtdurchfluteten Raum einschließen konnte, umgeben von neu entstandenen Bildern, Farbe und Pinseln und neues noch schöneres erschuf und dann gab es Tage an denen sie nicht einmal aus dem Bett herauskam, sie vollkommen antriebslos war und nicht einmal die Inspiration hatte einen Tropfen auf ein Blatt Papier zu machen. Daher waren die Phasen in denen ihre Inspiration nur so von sich auf die Leinwände zu fließen umso wertvoller. Ich schnappte mir meinen Rucksack und meine Fahrkarte, steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und stellte an meinem MP3-Player Hello Alone ein, auf das ich Lust hatte. Es kam mir vor wie ein Ruf in die Welt, dass ich meine Situation mit Blake akzeptierte und genau das brauchte ich jetzt. Die Sonne fühlte sich golden und warm an, als sei es Frühling und noch nicht August. Langsam wurden der Tag und meine Stimmung besser und ich hoffte, dass ich die Seife fand, die meine Oma besonders mochte. Vielleicht fand ich sogar noch eine dieser Wachskerzen. Darüber würde sie sich freuen. Als ich in die Bahn stieg, war sie leerer als ich erwartet hatte. Ich ließ mich auf den Platz neben einem Mädchen fallen, das mich freundlich anlächelte und deren braun-grauen Augen sofort weiter zum Fenster huschten. Ich sah den Anhänger um ihren Hals und fragte mich, ob er eine Bedeutung hatte. Beinahe hätte ich die Haltestelle verpasst, an der ich aussteigen musste, hetzte heraus und stieg auf die Rolltreppe. Hätte ich sie ansprechen sollen? Sie hatte freundlich und offen gewirkt... Ich versuchte aufrecht zu gehen. Vielleicht beeinflusste es meine Stimmung ja noch mehr, hoffte ich insgeheim. Ich hatte keine Lust darauf, den ganzen Tag über schlechte Laune zu haben. gestern war schon ein Tage gewesen an dem ich mich in meiner Haut zu klein und unsicher gefühlt hatte und dann hatte mir auch noch dieser Junge zu denken gegeben. Da konnte ich einen sonnigen Tag, an dem ich der Welt mit einem Lächeln begegnete gut gebrauchen. Als ich in den Laden trat, in dem sich die Düfte von tausend von Kerzen und Seifen zu einem einzigartigen neuen Geruch mischten, spielte das Lied zum vierten Mal und ich fand sofort die Seife und sogar die Kerze, die ich suchte. An der Kasse musste ich nicht lange warten, der Typ, der mich bediente flirtete zum Spaß mit mir und der Tag schien wirklich immer besser zu werden. Als ich wieder auf die Straße trat, vermisste ich beinahe den einlullenden Geruch, der einem zu Kopf gestiegen war. Ich merkte wie meine Augen über die Menschen um mich herum huschten und ich sie nicht als Last ansah, der ich aus dem Weg gehen wollte, sonders als Inspirationsquelle. Ich sah die Gesichter, die Gesten, die Mimik, die Kleidung. Prägte mir jeden Eindruck ein, schien sie in mir einzuziehen, einzuatmen, wie die lauwarme Luft um mich herum. Ich entschied mich dazu länger in der Stadt zu bleiben. Es war kostbar so einen Tag zu haben, dass man ihn auch nutzen sollte. Wahrscheinlich könnte ich es zu Hause sowieso nicht ertragen, wo mein Vater las, meine Mutter malte, meine Schwester höchstwahrscheinlich schminken übte und Phips unbedingt Zeit mit mir verbringen wollte. Der Geruch von Kaffee stieg mir in die Nase, während ich mich von den Menschen treiben ließ und gar nicht darauf achtete, wohin eigentlich und ich entschied mich dazu den Rest der zwanzig Euro großzügiger auszugeben als geplant. Mit einem Caramel Macchiato in der Hand schlenderte ich weiter. Man sollte so etwas öfter machen. Man bemerkte viel mehr Details und verstand viel besser, dass die ganzen Menschen um einen herum auch Sorgen, Ängste und eine Geschichte hatten und dennoch alle etwas verband. Und zwar das Hier und Jetzt. Vielleicht gab es doch etwas wie das Schicksal. Diese ganzen kleinen Verbindungen, die eine Person zu einer anderen führte. Es musste schon viele Zufälle und richtige Entscheidungen geben, dass man zur selben Zeit am selben Ort war, wie die Person die man traf. Vielleicht war es gestern ein Wink des Schicksals gewesen, Blake loszulassen und neu zu beginnen und ich hatte ihn weggeworfen. Außerdem... Ich sprang mindestens einen halben Meter in die Luft, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, die mich aus meinen Gedanken riss. Mir wäre beinahe mein Becher heruntergefallen, dennoch ergoss sich etwas von dem Kaffee über meine Hand. Ich zog mir meine Kopfhörer vom Kopf. Jetzt interessierte es mich, wer mich aus meinen Gedanken gerissen hatte. Ich betete innerlich dafür, während ich mich umdrehte, dass es um Himmels Willen niemand aus meiner Schule war. Ich hatte keine Lust auch noch in den Sommerferien deren Gesichter zu ertragen. Ich brauchte einen Moment sein Gesicht einzuordnen, obwohl ich seit einem Tag an nichts anderes zu denken schien. er trug ein graues, schlichtes T-Shirt unter einer Sweatshirtjacke und dazu eine dunkle Jeans. Das Outfit schien zu schlicht und unauffällig im Gegensatz zu dem Jungen zu sein, den ich gestern kennengelernt hatte. Er grinste. Sein Gesicht war jedoch dasselbe und das Grinsen passte immer noch genauso gut herein. „Ich dachte, ich sehe dich nie wieder." Schwang Erleichterung in seiner Stimme mit? „Ich glaube unsere Begegnung gestern, ist nicht ganz so glatt gelaufen... Und ich würde es wirklich verstehen, wenn du schreiend weglaufen würdest." Er grinste und mir fiel jetzt erst auf, dass er gar nicht so viel größer war als ich. „Ich denke wir sollten reden.", fügte er hinzu und lächelte hoffnungsvoll. Ich versuchte es damit sein Lächeln zu erwidern. „Vielleicht sollten wir das wirklich." Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mit dem Gespräch hier überfordert war. „Wollen wir hier stehen bleiben oder uns setzen? Ich wohne hier ganz in der Nähe." Er zeigte über die Schulter. Zu meiner Überraschung nickte ich wie von selbst bei den Worten. „Gehen wir zu dir.", kamen mir die Worte über die Lippen, als sei er ein alter Freund, den ich schon seit Jahren kannte. Etwas an seiner Art, wie er mit mir umging, war so natürlich und unbefangen, dass ich gar nicht anders konnte, als mich in seiner Gegenwart zu entspannen. Er lächelte mich freundlich an und drehte sich um. Diesmal folgte ich ihm nicht bloß, sondern lief neben ihm. Nicht einmal das Schweigen, zwischen uns, das herrschte, weil uns beiden kein Gesprächsthema einfiel, wirkte als hätte es etwas Heimeliges. Wir kamen an einen Fahrradständer und er schloss ein mattschwarzes Fahrrad ab, das aussah, als sei es einige Male zu oft umgefallen. „Das gehört einem Freund.", erklärte er etwas verlegen, als er meinem Blick folgte. Ich nickte und spürte wie seine Augen über mein Gesucht huschten. Sogar während er das Fahrrad bloß schob, gab es ungesunde Geräusche von sich, als würde es auf den nächsten paar Metern auseinander fallen. „Wir sind gleich da." Er lächelte aufmunternd. „Was hast du in der Stadt besorgt?", fragte ich zum Teil weil ich neugierig war, zum anderen, weil ich ihn nicht anschweigen wollte. „Ich hab gefrühstückt und bin ein wenig rumgeschlendert und dann habe ich dich gesehen." Er grinste wieder und zog einen Wohnungsschlüssel aus der Jeanstasche. Wir standen vor einem Haus, das man bloß durch ein Tor erreichte, das Efeu überwuchert war. Links und rechts von dem Weg reihten sich Bäume aneinander und es wirkte beinahe wie eine kleine, eigene abgelegene Welt. Die Wände des Gebäudes waren von wildem Wein überwuchert. Er schloss die Türe auf, nachdem er das Fahrrad seines Freundes abgestellt hatte und führte mich durch einen Flur, ohne sich die Mühe zu machen seine Schuhe auszuziehen. Ich trat hinter ihm in ein Wohnzimmer ein, das abgedunkelt war. Ein paar flackernde Kerzen schickten Licht durch den Raum, das mehr aus Schatten zu bestehen schien und als sich meine augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte ich eine zusammengeknüllte Decke auf dem Sofa. Alles sah gemütlich und heimelig aus. Ein Junge mit kurz geschorenen Haaren, Kopfhörern über den Ohren und viel zu vielen blauen Flecken, saß in Boxershorts und einem weißen, zerknitterten T-Shirt am Wohnzimmertisch und blätterte durch ein paar dicke Bücher, während er sich irgendetwas herausschrieb. Octavian schritt durch das Zimmer und zog die weinroten Vorhänge vor den Fenstern auf. Erschrocken, als hätte er uns gerade erst bemerkt, sah der Junge auf und streifte seine Kopfhörer vom Kopf. Aus ihnen drang etwas, das mich entfernt an die Apokalypse erinnerte. „Du machst dir so noch die augen kaputt und tu wenigstens mal so, als seist du sozial.", sagte Octavian kühl mit verschränkten Armen und nickte in meine Richtung. Der Ernst und die Verachtung in den Augen des Jungen, mit denen er mich musterte, ließen sein Gesicht älter wirken. Octavian schien bloß mit angsteinflößenden und abweisenden Typen befreundet zu sein. Er lächelte mich entschuldigend an und stellte die Musik an der Stereoanlage ab. „Ich war gerade mitten drin.", sagte der Junge empört. „Dann mach das bei dir. Da stört dich niemand." Mir fiel auf, dass der Junge mit den kurzen Haaren, dem muskulösen Körper, der unter seinem T-Shirt zu erahnen war und dem schmalen Gesicht mit den kantigen Linien an einen Soldaten erinnerte. Einen Soldaten im Krieg gegen die ganze Welt. Er klappte die Bücher lautstark zu, stand auf, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen und verschwand irgendwo im Flur. „Setz dich." Octavian zeigte einladend auf den altmodischen Ohrensessel, der grün rot kariert war und mehr oder weniger abgenutzt aussah, während er sich auf den Sofa fallen ließ. Ich setzte mich vorsichtig hin und spähte immer wieder misstrauisch über meine Schulter, ob der Junge wieder zurückkam. Irgendwie fand ich ihn gruselig. „Er ist immer so.", erklärte Octavian und schenkte mir etwas zu trinken ein. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden.", sagte ich und sah mich im Wohnzimmer um. Die Wände waren weiß gestrichen, bis auf eine, deren Farbe dieselbe wie die der Vorhänge war. „Tut mir leid, wegen gestern..." Er seufzte und lehnte sich zurück. „Hektor ist ein wenig temperamentvoll." Ich zog eine Augenbraue hoch. Temperamentvoll kam mir ein wenig untertrieben vor. „Und er ist dein Freund?" Er spielte mit seinen Fingern an dem Faden eines Kissens herum und mir entging nicht wie er etwas nervös an seiner Unterlippe herumkaute. „Ja..." Er wich meinem Blick aus. „Und wieso hast du mich dann geküsst?" Einen Moment herrschte Stille und man hörte bloß leise Musik über unseren Köpfen. „Weil ich das Gefühl in der Brust hatte, dass es das Richtige war..."


2 refracted Boys.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt