Einführung

1.6K 65 7
                                    

Seine Hand lag sanft an meiner Hüfte. Er zog mich langsam zu sich, sodass sich der Abstand zwischen uns verringerte. Ich sah im tief in die dunklen Augen. Alles um mich herum verblasste und verschwamm.
Mit seiner anderen Hand strich er mir leicht über die Wange und ließ sie dort ruhen. Sein Gesicht musste meinem Stück für Stück näher gekommen sein, ich spürte seinen stockenden Atem.
Ich schloss meine Augen.

***

Mein letztes Jahr in Hogwarts betrachtete ich von Anfang an skeptisch. Ich hatte mir viele Gedanken gemacht, lange bevor ich in den Hogwarts Express gestiegen war, lange bevor ich mich alleine von Zuhause aus auf den Weg nach King's Cross gemacht hatte.
Es fühlte sich nicht richtig an, zurückzukehren. Ich fühlte mich unwohl und wollte bei jedem Schritt umkehren. Meine Augen brannten, doch konnte ich die Tränen zurückhalten.
Es war nun das zweite Mal, dass ich mich auf den Weg für mein letztes Jahr in Hogwarts machte.
Doch hatte ich beim ersten Mal nur fast ein Viertel davon geschafft, einige Krankheiten und Verletzungen hatten mich davon abgehalten. Man konnte sagen, das war einfach nicht mein Jahr. Die meiste Zeit davon hatte ich im St.-Mungo-Hospital verbracht. Dort entweder geschlafen oder gelesen. Einige Bücher über Zauberei, aber auch viel Muggel-Literatur.
Darunter auch einige deutschsprachige Klassiker, die ich glücklicherweise im Original lesen konnte, da ich selbst aus Deutschland stammte und musste nicht auf irgendwelche grauenhaften Übersetzungen zurückgreifen.
Zwar war ich bereits im Alter von fünf Jahren mit meiner Familie nach London gezogen, dennoch sprach ich fließend Deutsch, da ich zweisprachig aufgewachsen und immer wieder zu Besuch bei Verwandten und alten Freunden war. So auch nach meiner Zeit im Krankenhaus. Eigentlich wollte ich nach Hogwarts zurück, doch hätte es keinen Sinn gemacht, ich hatte zu viel verpasst und wäre an den Prüfungen kläglich gescheitert. Meine Mutter war für einige Zeit aus beruflichen Gründen nach West-Berlin gezogen und ich entschied spontan, für einige Zeit zu ihr zu ziehen. Ich brauchte etwas Neues, wollte raus aus meinem alten Alltag. Ich war durchgehend in seltsamer Stimmung. Ein monatelanger Krankenhausaufenthalt verändert einen. Vor allem lernt man Einsamkeit akzeptieren. Zwar versuchte meine Familie mich oft genug zu besuchen, doch hatten sie eigene Verantwortungen.
Und sie waren Muggel. St.-Mungo machte ihnen Angst. Was nachvollziehbar ist, wenn man die Welt der Zauberei nur aus gelegentlichen Erzählungen kennt. Ebenfalls sind Nicht-Zauberer keine gern gesehenen Gäste in magischen Einrichtungen. Meine Freunde waren natürlich in Hogwarts mit ihren UTZen beschäftigt. So vereinsamte ich mehr und mehr und zog mich weitestgehend in Bücher und meine eigenen Gedanken zurück.
London war toll, Berlin aber stellte eine Erlösung für mich dar. Zum einen war es etwas vollkommen anderes, ich konnte so erstmal die letzten Monate hinter mir lassen und vergessen. Und ich war volljährig - in der Welt der Zauberer zumindest. Ich konnte also frei Magie ausüben und genoss es in vollen Zügen.

Ich verbrachte viel Zeit mit meiner und somit unter Muggeln.
Trotzdem lernte ich einige Magier kennen, man erkennt sich einfach. So hatte ich trotzdem einen Bezug zu dieser anderen Welt, zu der ich ja ebenfalls gehörte.
Als ich mit meiner Mutter - wieder aus beruflichen Gründen - ein paar Tage in der Hauptstadt Bonn verbrachte, nahmen mich einige dieser neuen Bekanntschaften sogar mit in das 'Institut für angewandte Magie', eine deutsche Schule für Zauberei. Es war anders als Hogwarts, aber genauso beeindruckend. Für einen kurzen Moment hatte ich sogar überlegt, nicht dort meinen Abschluss zu machen. Aber dafür waren die Schulen leider zu unterschiedlich.
Schließlich musste ich mich doch auf den Weg nach Hogwarts machen.
Ich hatte ein höchst ungutes Gefühl. Ich war nie der Mensch gewesen, der sonderlich viele Freunde hatte. Eher schlecht darin, neue Menschen kennenzulernen. Und alle, die man wirklich zu Freunden zählen konnte, hatten die Schule verlassen. Ich spürte die Einsamkeit wieder auf mich zukommen. Und das in einem Tempo, das mich schaudern lies.

Nur wenige Stunden, bevor ich in den Hogwarts-Express stieg, war ich wieder in Großbritannien angekommen. Eigentlich wollte ich früher dort sein, noch ein paar Tage mit meiner Familie verbringen. Doch meine Geschwister waren schon wieder in der Schule und mein Vater ebenfalls beruflich unterwegs. Demnach hätte es sich kaum gelohnt, da ich alleine in der Wohnung gesessen hätte. Umso mehr freute ich mich auf die nächsten Ferien, wenn meine Mutter auch endlich wieder zurück und sowieso alles wieder wie gewohnt war. Die vorübergehende Trennung und ihr Auszug waren für alle schwer gewesen, doch war es die einzige Chance zurück in ihren Job zu kommen, nachdem sie sich lange Zeit intensiv um die Familie gekümmert hatte.

Ich hatte mir schnell in einer kleinen Buchhandlung Lesestoff für die Reise besorgt und machte mich mit meinem Koffer und meinem Uhu Günther - der Name war zu Beginn nur als Scherz gemeint, dennoch hatte er sich durchgesetzt. Ich hatte lange Zeit darauf bestanden, dass sein Name Dorian war, aber irgendwie wurde dieser nur von mir benutzt. Also fügte ich mich und musste mich fortan jedes Mal aufs neue dem Spott meiner Mitschüler aussetzen. Berechtigt, wie ich zugeben musste. Günther war ein grauenhafter Name für einen Uhu.

Als ich endlich den Bahnsteig betrat war ich überwältigt von der Masse an Menschen, die mich dort fast überrannte.
Nein: ich war überwältigt von der Masse an Hexen und Zauberern. Lange hatte ich nicht mehr so viel Magie an einem Ort gesehen und vor allem gespürt.
Ich sah mich um. Eltern verabschiedeten sich mit Tränen in den Augen von ihren Kindern, die sich ebenfalls nicht von ihren Familien trennen wollten. Ein wenig erleichtert, das nicht selbst durchmachen zu müssen, schleppte ich meinen Koffer in den Zug und suchte mir ein noch leeres Abteil. Ich hatte niemanden, zu dem ich mich setzen wollte. Außerdem war es mir nur Recht, ein wenig allein zu sein.
Denn man muss unterscheiden können zwischen allein sein und Einsamkeit.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt