Die Bitte

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Wie immer verließ ich als eine der ersten - wenn nicht sogar die Erste - nach dem Frühstück die große Halle. Menschenmassenvermeidungsstrategie.

Entweder hatte er auf mich gewartet, oder es war einfach gutes Timing. Beides war durchaus möglich.
Ich hatte ihn zuerst nicht gesehen, weshalb ich leicht zusammenschreckte, als er schließlich auf mich zu kam.
Ich wünsche ihm einen guten Morgen, Professor Snape allerdings wollte gleich zum Punkt kommen: "Heute Abend - dieses Mal mein Büro."
Ich wollte ihn schon fragen, ob er schlecht geschlafen hatte, entschied mich aber aus diversen Gründen dagegen.
"Ähm... Okay...?", antwortete ich nur.
Er sah mich ausdruckslos an und sagte: "Sie haben noch immer Strafarbeiten zu verrichten..."
Verdammt, dachte ich mir.
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, drehte er sich um und verschwand in Richtung der Kerker.
Meine einzige Hoffnung war, dass seine Laune am Abend besser wäre.

Da ich nachmittags keinen Unterricht und im Prinzip auch keine Hausaufgaben mehr hatte, setzte ich mich in einen der Sessel in unserem Gemeinschaftsraum.
Ich beobachtete die Anderen und genoss den puren Luxus des Nichts-Tuns.
Ich schloss meine Augen, versuchte den Lärm auszublenden.
Da das Haus der Slytherins in den Kerkern, direkt unter dem schwarzen See lag, war es hier immer kalt. Selbst, wenn im Kamin ein Feuer brannte, das tanzende Schatten an die Wände warf.
Aber vielleicht war das auch nur mein persönlicher Eindruck.

Viel zu schnell wurde es Abend. Zwar war ich vollkommen unproduktiv gewesen, hatte einige meiner Lieblingsbücher durchblättert, mir zum gefühlt hundertsten Mal die markierten Stellen durchgelesen.
Trotzdem ging die Zeit meiner Meinung nach viel zu schnell um.
Schließlich machte ich mich seufzend auf den Weg.
Glücklicherweise lag Professor Snapes Büro ebenfalls in den Kerkern und ich musste nicht wirklich weit laufen.

Ich klopfte an seine Tür und wurde keine Sekunde später hineingebeten.
Am Büro des Professors konnte man erkennen, dass er noch nicht lange hier war. Die Wände waren komplett mit Regalen bedeckt, dennoch war nicht einmal ein Drittel gefüllt. Dort standen vereinzelt Gefäße mit bunten Flüssigkeiten und skurrilem Inhalt, hinter dem Schreibtisch reihten sich einige Bücher aneinander.
Hinter diesem saß er, tief über ein Buch gebeugt.
Als ich den Raum betrat sah er kurz auf.
Unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, als hätte er seit Nächten nicht mehr ordentlich geschlafen.
Sein Umhang hing leicht schief und seine Haare waren fettig. Anscheinend hatte er sich noch weniger um sich selbst gekümmert als sonst.
Trotz seiner Müdigkeit bemühte er sich freundlich zu sein, zumindest wünschte er mir einen guten Abend und bat mich, mich ihm gegenüber zu setzen.
Sein Schreibtisch war groß genug, sodass wir beide daran arbeiten konnten.
Er hatte mir das Buch von letzten Mal bereitgelegt.
Anscheinend war er mithilfe von Magie bis zu dem Punkt gekommen, dass er ungefähr wusste, womit sich die Kapitel inhaltlich beschäftigten. So waren einige mit kleinen Streifen Pergament markiert. Er erklärte mir, dass es nur notwendig wäre, diese genauestens zu übersetzen. Sie wirkten so wahllos ausgewählt, dass ich mir nicht erschließen konnte, zu welchem Zweck er sie brauchte.

Ich arbeitete konzentriert, dennoch warf ich ab und an einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen des Professors.
Anscheinend korrigierte er Aufsätze, die ich thematisch ungefähr in die dritte Klasse einordnen würde.
Die wenigsten von Ihnen schienen besonders gut gewesen zu sein.
"Sind die wirklich alle so schlecht oder sind Sie nicht in der Stimmung, gute Noten zu geben?", fragte ich ihn grinsend.
Er hob seinen Kopf, verdrehte nur die Augen und schrieb weiter. Eine Antwort bekam ich nicht.

Die Arbeit ermüdete mich. Ich traute mich nicht zu fragen, wann ich endlich fertig wäre. Ich hatte Angst, dass mich die Antwort zu sehr deprimieren würde. So hatte ich immerhin noch Hoffnung, dass es jede Sekunde vorbei sein würde.
Gähnend lehnte ich mich zurück und schloss kurz meine Augen.
Durch das knisternde Kaminfeuer war der Raum angenehm warm. Der Stuhl, auf dem ich saß, kam zwar nicht an die Sessel im Gemeinschaftsraum ran, war aber dennoch bequemer als die Stühle der Klassenzimmer. Unter diesen Umständen hätte ich problemlos einschlafen können.
Doch ein Räuspern Snapes hielt mich davon ab endgültig einzuschlafen.

Ich rieb mir kurz die Augen und sah ihn schläfrig an.
"Nun, ihre Strafe haben Sie abgearbeitet...", sagte er.
Ich war erleichtert.
Ich wollte gerade aufstehen und gehen, da sprach er weiter: "Könnte ich Sie dennoch bitten, am Samstag noch einmal hier zu erscheinen?"
Offensichtlich fiel es ihm schwer, mich wirklich um etwas zu bitten und nicht einfach die Anweisung dafür zu geben.
"Nun ja...", sagte ich, "... ich befürchte, dass das das letzte einigermaßen schöne Wochenende wird. Ich wollte nach Hogsmeade, bin sogar schon verabredet..."
Er wirkte nicht begeistert. Er hatte anscheinend nicht mit einer Absage gerechnet.
"Auch kein Problem", sagte er zu meiner Überraschung. "Kennen Sie das kleine Restaurant im hinteren Teil Hogsmeades, gleiche Straße wie das Postamt? Ich erwarte Sie gegen Sechs."
Widerworte schien er nicht zuzulassen. Demnach stand es wohl fest. Ich musste in meiner Freizeit zu einem Treffen mit Professor Snape. Von wegen, meine Strafe ist abgearbeitet...

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