Erkenntnis

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Der Schmerz wurde durchgehend stärker.
Ich wollte nicht weinen, wollte stark bleiben, wollte die Kontrolle behalten. Doch es funktionierte nicht.
Was habe ich nur getan?, fragte ich mich.
Ich hatte nahezu meine gesamte Freizeit mit Snape verbracht. Hatte einfach getan, was er wollte. Hatte nichts davon hinterfragt. Doch nichts passte zusammen, nichts machte einen Sinn. Hatte er die Szene mit Lily inszeniert, um endgültig mein Vertrauen zu gewinnen und was lag ihm daran?
Warum, warum, warum... Diese Frage drängte sich kontinuierlich in mein Gehirn, doch ich konnte sie nicht beantworten.
Ich wurde langsam komplett vom Schmerz eingenommen, war nicht mehr in der Lage zu denken.
Meine Tränen drohten mich zu ersticken.
Stechender Schmerz. Angst.
Ich stöhnte leise, schrie. Mein Körper verkrampfte sich. Ein Ast bohrte sich in meinen Rücken, es war mir egal.

Hitze. Ich würde verbrennen.
Ich war bereits verbrannt. Déjà vu.
Schmerz. Nichts war vergleichbar mit dem Gefühl tausender Grad heißer Flammen auf dem Körper.
Schatten tanzten vor meinen Augen.
Und wie schön sie tanzten! Ich war ganz eingenommen von ihrem Tanz. Wie sie sich drehen, wie die kleinen Figuren sich im Feuer drehen, wie sie schwingen, wie elegant und frei.
Alles wurde leicht. Leicht wie meine tanzenden Schatten!
Langsam wurden sie deutlicher. Ich war einer dieser Schatten! Ich erkannte meinen eigenen Körper und meine eigenen Gesichtszüge in einem der tanzenden Schatten.
Er war der andere. Snape war der andere Schatten.
Zerstöre ihn, zerkratze ihn, zertrete ihn, wollte ich meinem Schatten zurufen. Zerstöre diesen Todesser! Doch sie konnte mich nicht hören, war gefangen in ihrem Tanz, sie drehte sich weiter in den Flammen.
Ich wollte selbst nach ihm greifen, ihn in meiner Hand zerdrücken, ihn für alle Zeiten auslöschen.
Doch meine Hand bewegte sich nicht.
Sie tanzten weiter... Bewegten sich synchron... In den Flammen...
Feuer, rot und gelb... Flammen, blau... Tanz, frei und schnell... Hitze, auf meiner Haut... Kälte, neben Hitze...

"Hätte ich ehrlicher zu dir sein sollen? Was soll die Frage, natürlich hätte ich das! Habe ich all das wirklich für selbstverständlich angenommen? Verdammt, ich war so eingenommen von mir selbst und dem Gedanken, ich könnte sie retten... Ich habe nur an mich gedacht, nicht an dich. Dabei wäre ohne dich kaum etwas hiervon möglich. Warum kann ich sowas nur sagen, wenn ich weiß, dass du mich nicht hörst? Aber du hältst mich jetzt für einen grausamen, schlechten Menschen, einen Todesser, der Muggelstämmige verachtet... Nein, du hast sogar recht. Ich bin ein grausamer, schlechter Mensch. Ich bin ein Todesser. Aber ich verachte dich doch nicht... Wie könnte ich nur? Ich bereue es doch, mich jemals auf den Dunklen Lord eingelassen zu haben... Es wird mich auf Ewigkeit verfolgen... Ich hatte mich angenommen gefühlt, endlich Leute gefunden, die mich akzeptiert hatten, die mir die Anerkennung entgegengebracht hatten, die ich mir seit Jahren erhofft hatte, nach der ich mich so gesehnt hatte... Doch jetzt möchte er sie töten, einfach so... Ich habe gebettelt, doch er wird es trotzdem tun... Wegen mir, weil ich wieder so blind war, so dumm, weil ich einfach die Prophezeiung weitergegeben habe... Dass ich Dumbledores Spion geworden bin, macht das alles nicht vergessen, ändert nichts... Nicht nur mein Leben ist verkorkst, durch mich ist es auch deins... Wenn ich nur in Worte fassen könnte..."

Alles war weich. Seltsam weich. Der Schmerz war fast verschwunden. Ich spürte nur noch ein leichtes Ziehen in meinem Bein, ein leichtes Pochen, mehr nicht.
Ich öffnete die Augen und musste irritiert feststellen, dass ich nicht mehr im Wald war.
Ich sah mich um und stellte fest, dass ich mich in meinem Zimmer in London befand.
Wie bitte war ich hergekommen?
Ich stand langsam auf, versuchte ein paar vorsichtige Schritte zu gehen. Es war wackelig, doch humpelte ich nur leicht.
Ich blickte mehr zufällig in den Spiegel, der neben meinem Bett stand. Ich trug Shorts und ein Top, an die ich mich nicht erinnerte, sie angezogen zu haben.
Ich torkelte ein paar Schritte zurück und fiel auf mein Bett.
Alles drehte sich ein bisschen, ich wartete einige Sekunden, bis ich mit erstickter und kratziger Stimme "Mum?" rief.
Ich hätte nie gedacht, dass sie mich gehört hatte. Doch schnelle, hektische Schritte auf der Treppe ließen auf etwas anderes schließen.
"Schätzchen!", sagte sie mit besorgter Stimme, als sie in mein Zimmer kam. "Ist alles in Ordnung?"
"Ähm...", antwortete ich ihr langsam. "Ja... Ja, klar. Aber kannst du mir vielleicht sagen, was zum Teufel passiert ist?"
Sie antwortete nicht sofort, sondern sah mich böse an, schob mich zurück unter die Decke und hörte nicht auf meinen Protest.
"Ach, es war alles ein bisschen komisch und erschreckend!", begann sie zu erklären, während sie einen Stuhl neben mein Bett stellte und sich setzte. "Gestern beim Mittagessen stand plötzlich dein Professor hinter uns, ist wie aus dem Nichts aufgetaucht! Er meinte nur, dass du in deinem Bett liegst und wir uns um dich kümmern müssen. Du hättest dich schlimm verletzt, wärst gestolpert. Sämtliche Bänder wären gerissen, irgendwas anderes noch, ich weiß es schon nicht mehr, und du hättest dir auch noch was gebrochen, Splitterbruch! Kind, was machst du nur für Sachen? Hat uns noch einen Stapel dreckiger Klamotten in die Hände gedrückt und ist wieder verschwunden!"
Ich war verwirrt.
"Ich hol dir erstmal was zu Essen!", sagte meine Mutter zerstreut. Ich hatte kaum Hunger, doch wusste ich, wie sinnlos es wäre, ihr zu widersprechen.

Ich versuchte die Geschichte, die sie mir gerade erzählt hatte, einzuordnen. Also musste er zurückgekommen sein. Muss sich um meine Verletzung gekümmert haben.
Mein Blick fiel auf ein Bündel dreckigen Stoffes, das auf meinem Boden lag. Wenn allein meine Kleidung so dreckig war, wie verdreckt musste ich gewesen sein?
Ich blickte an mir herab - ich war sauber.
Er hatte doch nicht-?
Ich war empört.
Er musste auch für meine neuen Kleider verantwortlich sein.
Ich wurde wütend. Was bildete der sich eigentlich ein?
Auf der anderen Seite würde ich ohne ihn noch immer im Wald liegen und wäre vermutlich längst erfroren...
Plötzlich kamen mir die Worte wieder in den Sinn, die ich gehört hatte. Es waren seine Worte gewesen. Und er hatte nicht gedacht, dass ich all das mitbekommen habe.
Immer deutlicher wurde das, was er gesagt hatte.
Er war immer ein Mysterium gewesen. Um ehrlich zu sein, war er das noch immer. Doch es war viel Licht ins Dunkle gebracht worden.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt