Umarmung

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Nach meiner letzten Unterrichtsstunde machte ich mich schnellen Schrittes auf den Weg zu Severus. Ich hatte noch immer seinen Umhang und da er beim Mittagessen keinen getragen hatte, ging ich davon aus, dass der, den ich mir angeeignet hatte, wirklich sein letzter sauberer war.
Vermutlich wusste er einfach nicht, wie man ordentlich wäscht und hatte sich deshalb auf die Hauselfen von Hogwarts verlassen. Dass aber auch die ein bisschen Zeit brauchten, hatte er sicherlich nicht mit eingerechnet.
Wie auch immer, dachte ich mir, ich würde ihm einfach seinen Umhang zurückbringen und er hat ein Problem weniger.
Zuerst klopfte ich an die Tür seines Büros, doch hatte wenig Erfolg. Ich ging nicht davon aus, dass er bereits schlief, es war gerade einmal Nachmittag, weshalb ich es ebenso im Zaubertränkeklassenzimmer versuchte.
Tatsächlich hatte ich recht. Ich fand ihn mit einem kleinen Mädchen sprechend vor. Ich vermutete, dass sie ungefähr in der zweiten Klasse war.
"Ich wollte dir nur...", begann ich. Doch sofort wurde ich von ihm unterbrochen.
"Warten Sie in meinem Büro", fauchte er mich an.
Verdutzt stotterte ich: "O-ok?"
Er wandte sich von mir ab und reichte seiner Gesprächspartnerin ein paar Zettel.
Zu irritiert um etwas zu erwidern ging ich seiner Aufforderung nach.
Doch dachte ich gar nicht daran, mich auf die Plätze zu setzen, die für seine Gäste vorgesehen waren.
Süffisant grinsend ließ ich mich auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder. Offensichtlich hatte er zuletzt Hausaufgaben kontrolliert und für eine gewisse D. Smith aus dem Hause Gryffindor sah es gar nicht gut aus. Severus hatte bei ihrer Arbeit mehr korrigiert, als sie selbst geschrieben hatte.
Doch wurde mir D. Smith ziemlich egal, als er mit versteinerter Miene den Raum betrat.
Mit klopfendem Herzen stand ich auf.
Ich wusste nicht, was eigentlich passierte. Was mit ihm los war. Was vorgefallen war.
Ich fühlte mich unglaublich dumm. Nie hatte ich bei irgendwas den Durchblick. Nie konnte ich Dinge einschätzen, bewerten, einordnen. Ich fühlte mich unwissend, wie ein kleines Kind, dem Dinge immer vorenthalten wurden. Weil es noch nicht reif genug für alles war. Beschützt werden musste.
"Was ist dein Problem?!", schrie ich ihn an.
Er wirkte verdutzt. Als er jedoch antwortete schrie er im Gegensatz zu mir nicht. Seine Stimme war ruhig und beherrscht. Trotzdem hatte sie einen bedrohlichen Klang: "Ich habe tatsächlich kein Problem. Im Gegensatz zu Professor McGonagall, die direkt ein Gespräch mit mir gesucht hat, nachdem du heute morgen gegangen warst."
Ich lachte sarkastisch, versuchte ebenfalls ruhig zu werden, doch konnte ich nicht anders. Ich hatte noch immer meine Stimme erhoben: "Keine Panik, das ist alles geklärt. Sie hat nicht nur mit dir gesprochen!"
Er machte einige Schritte auf mich zu, kam mir näher.
Ich konnte eine Spannung zwischen uns spüren, die antithetischer nicht sein konnte; Ich spürte die Anspannung, das Bedrohliche, unsere Anziehung, den Wunsch, dass er immer näher kam, den Wunsch, einfach wegzurennen.
"Offensichtlich hast auch du ein Problem", stellte er monoton und ohne eine Veränderung seiner Mimik fest.
Bevor ich es in diesem Moment ausgesprochen hatte, war mir nichts davon bewusst gewesen: "Ein Problem? Ich habe definitiv ein Problem! Nach allem, was passiert ist, weiß ich noch immer so verdammt wenig über dich! Ich kenne Bruchstücke deines Charakters, ja. Aber wer ist Severus Snape? Ich weiß nicht mal, wann du Geburtstag hast, wie alt du eigentlich bist, ob du Geschwister hast! Was deine Lieblingsfarbe ist, wo du wohnst! Du bist in so vielen Hinsichten ein Fremder für mich!
Ich kenne deine Motive, aber ich weiß nicht, was wirklich passiert! Ich lebe so vor mich hin und das war immer irgendwie ok. Ich war jünger, habe viele Dinge nicht verstanden, natürlich. Das weiß ich. Aber dann kam mein Unfall, ich war nicht in England, habe genau die Phase verpasst, in dem alles klarer werden sollte. In der ich meinen Platz finden sollte, in der hier so viel passiert ist. Ich war ein Außenseiter! Als ich das alles nachholen sollte, kamst plötzlich du. Ich habe mich von meiner Familie entfernt, von meinen alten Freunden, habe nur oberflächlichen Kontakt zu manch anderen. Ich habe quasi nichts!"
Tränen stiegen in meine Augen. Wut vermischte sich mit Aussichtslosigkeit: "Ich bin mit mir alleine. Und Severus, ich stamme von Muggeln ab! Ich bin ein Schlammblut! Ich werde gehasst, verachtet, man will mich tot sehen! Ich verdränge all das, die ganze Zeit. Aber es ist da!"
Ich zitterte am ganzen Körper. Ich wollte schreien.
Er sah mich unergründlich an: "Ich bin Severus Snape. Ich wurde am 9. Januar 1960 geboren. Meine Mutter ist eine Hexe, mein Vater ein Muggel. Ich habe keine Geschwister, wohne ausschließlich in Hogwarts. Meine Lieblingsfarbe ist... Grün."
Er bezog sich damit auf die Fragen, die für mich eher rhetorischer Natur gewesen waren und die ich genutzt hatte, um zu zeigen, was ich alles nicht über ihn wusste.
Ich erschrak als ich feststellte, dass er in zwei Tagen Geburtstag hatte.
"Feierst du deinen Geburtstag mit deinen Eltern und Freunde?", fragte ich ihn.
Er lachte bitter: "Meine Eltern haben meinen Geburtstag noch nie gefeiert. Für sie war es eher ein Tag der Trauer."
Seine Worte trafen mich hart.
Seine Stimme wurde weicher, als er fortfuhr: "Es tut mir leid. Hätte ich gewusst, was ich alles anrichte, hätte ich dich nie so intensiv beansprucht... Es war egoistisch und falsch..."
Ich wollte nicht, dass er sich für irgendwas die Schuld gab. Ich unterbrach ihn schnell: "Nein, Severus. Ich bin alt genug um selbst zu entscheiden, was ich tun will und was nicht.
Ich glaube... Ich fand einfach den Gedanken unglaublich anziehend, ich könnte etwas mitentwickeln, womit man etwas so endgültiges wie den Todesfluch besiegen kann.
Da kam wohl wieder mein innerer Slytherin durch... Was eine Macht es einem geben kann! Vermutlich hat auch Größenwahn und größenwahnsinniger Ehrgeiz seinen Teil getan."
Wir sahen uns schweigend an.
Nach einiger Zeit begann er langsam: "Ich verspreche dir, dass ich dir mehr über mich erzähle. Wirklich. Heute ist vielleicht nicht der richtige Moment, aber ich möchte kein Fremder für dich sein."
Er war eine so in sich gekehrte Person, so verschlossen, so bedacht auf seine Geheimnisse, dass ich die Kraft, die in dieser Aussage steckte, unglaublich wertschätzte.
Langsam ging ich auf ihn zu, legte zögerlich meine Arme um ihn und drückte ihn feste an mich, als ich keinen Widerstand spürte.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt