Lily

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Erneut hatten wir unser Zelt aufgeschlagen. Doch dieses Mal war es nicht ganz so kuschelig. Wir befanden uns irgendwo in Großbritannien.
Immerhin schneite es dort nicht, wir waren nur leichtem Nieselregen ausgesetzt.
"Warum dieses verdammte Zelt? Können wir nicht einfach nach Hogwarts? Oder in ein anderes GEBÄUDE?", fragte ich ihn genervt, als ich ein zweites Paar Socken überzog. Wenn ich Glück hatte, würde ich meine Füße möglicherweise wieder spüren können.
"Weil wir hier definitiv ungestört sein werden. Ich möchte es gerne vermeiden, dass allzu viele von unserem Plan erfahren", erklärte er mir matt und entzündete das Feuer für den Kessel.
Schnell rückte ich näher. Er nickte zufrieden und interpretierte es wohl als übermäßige Eifer. Mir ging es jedoch primär darum, zu verhindern, dass mir irgendwelche Gliedmaßen abfroren.

Wir arbeiteten die ganze Nacht durch und wir bekamen jeweils nur wenige Stunden Schlaf, da irgendjemand immer den Kessel überwachen oder neue Zutaten hinzugeben musste.
Am nächsten Morgen betrachtete ich mich schockiert im Spiegel: Meine Haare standen in alle Richtungen ab, ich hatte tiefschwarze Ringe im Gesicht, die meine Augen wirken ließen, als lägen sie auf dem Grund eines unendlich tiefen Brunnens und im Gegensatz zu meiner Gesichtsfarbe hätte jeder Geist lebendig gewirkt.
Das ganze ging mir langsam enorm an die Substanz. Sehnsüchtig blickte ich auf den nächsten Tag, an dem ich in einem kuscheligen Bett aufwachen und mich zum Frühstück an einen reich gedeckten Tisch setzen würde.
Nach kurzer Zeit gab ich auf, mein Aussehen retten zu wollen. Diesen Kampf konnte ich nur verlieren.
Gähnend schlurfte ich zu ihm zurück und setzte mich an den Kessel, um mich ein wenig aufzuwärmen.
"Wie sieht's aus mit Frühstück?", fragte ich mit knurrendem Magen. "Hm?", entgegnete er nur abwesend und machte sich Notizen auf einem kleinen Stück Pergament.
"Früh-stück!", sagte ich langsam und übertrieben deutlich betont.
"Ja, oh ja", murmelte er. "Kannst du dich bitte darum kümmern? Danke!"
Unglaublich, dachte ich mir. Ohne mich hätte er vermutlich tagelang kaum was zu sich genommen.
Ich machte mir ehrliche Sorgen. Er schien besessen davon, diesen Trank fertig zu stellen und seine Freundin zu retten.
Er schien nur noch dafür zu existieren. Alles andere hatte er anscheinend aus seinem Denken verbannt. Allem voran sich selbst.
Ich seufzte und ging zu meinem Rucksack, zog eine Miniaturausgabe eines Besens daraus hervor, tippte ihn kurz mit der Spitze meines Zauberstabes an und ließ ihn wieder auf Normalgröße wachsen.
"Ich nehm den langsamen, aber sicheren Weg. Wenn ich jetzt appariere, hab ich zu große Befürchtungen mich zu zersplintern. Ich kann mich nicht richtig konzentrieren und bin zu übermüdet", erklärte ich ihm. Er nickte nur, den Blick noch immer auf seine Notizen gerichtet. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal registriert, was ich gesagt hatte.

Ein unbeschreiblich lebendiges Gefühl ergriff mich, als ich mich auf meinem Besen in die Luft schwang.
Wie lange war ich nun schon nicht mehr geflogen?
Doch fliegen war wie Fahrrad fahren - man verlernte es nicht.
Ich schloss meine Augen und genoss für einen kurzen Moment das Gefühl völliger Freiheit.
Natürlich war es eine Illusion. Ich wäre naiv, wenn ich glaubte, ich wäre auch nur ansatzweise frei. Ich war gebunden an zu viele Zwänge. Vor allem aber an zu viele Ängste. Diese war ich zwar in der Lage zu verdrängen, doch nicht zu vergessen.

Ich wusste nicht, wohin ich fliegen musste. Unter mir erstreckten sich unendliche Landschaften; kahle Wälder, die trostlos ihre knorrigen Äste nach den wenigen Sonnenstrahlen ausstreckten, die nur mit viel Mühe durch die dichten grauen Wolken dringen konnten.
Alles war von einem grauen Schleier überlagert.
Nichts wirkte mehr lebendig. Tapfer versuchten vereinzelte Tannen dem reißenden Wind standzuhalten.
Ich blendete vollkommen aus, dass es so etwas wie Zeit gab. Ich genoss es in vollen Zügen, nicht auf die Uhr blicken zu müssen, um nicht den nächsten Termin zu verpassen.
Mit jedem Zug kalter klarer Luft wurden auch meine Gedanken klarer. Alles wirkte so unendlich einfach.
Ich musste Laut lachen. Was war eigentlich mein Problem? Was konnte mir nur passieren? Es war doch alles so leicht. Dummes Ich, dass ich mir so viele Sorgen gemacht hatte!
Ich wusste natürlich, dass dem nicht so war. Doch alleine die wenigen Sekunden, in denen ich mich selbst auslachen konnte, in denen sich alles einfach und frei und weniger ernst anfühlte, gaben mir neuen Mut.
Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Ich fühlte mich nicht mehr erschöpft.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt