Nachtspaziergang

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Mein zweiter Schultag in Hogwarts begann mit dem Unterrichtsfach Verwandlung, zusammen mit den Gryffindors. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, dieses Mal mit dem Frühstück ein wenig schneller zu sein. Ich wollte mich nicht wieder auf den letzten freien Platz setzen müssen, das könnte in diesem Fall wirklich mies werden.

Ich zwang mich, ein Stück Toast und ein Ei zu essen. So früh nach dem Aufstehen konnte ich eigentlich noch nicht frühstücken, aber bis zum Mittagessen würde es wieder seine Zeit dauern.
Ich zuckte leicht zusammen, als sich Mary, ein Mädchen aus meinem Schlafsaal, direkt gegenüber von mir auf einen Platz fallen lies. Ich war so in Gedanken, ich hatte sie nicht kommen sehen.
Wir wünschten uns gegenseitig einen guten Morgen und nachdem auch sie sich eine Scheibe Toast genommen hatte, fragte sie: "Hast du dir schon was für die Aufgabe von Professor Snape überlegt?"
Ich trank kurz einen Schluck und antwortete: "Ja, ich hatte zumindest eine Idee. Die Aufgabe enthält ja nicht so strikte Vorgaben. Wir sollen ja einfach nur die Woche nutzen und einen Trank brauen, der ihn irgendwie beeindruckt. Und einen kurzen Aufsatz dazu schreiben, aber das hat man ja schnell gemacht. Ich hatte einen Trank im Kopf, muss aber erstmal schauen, ob ich in der Bibliothek ein Buch mit geeignetem Rezept finde."
Sie nickte nur und erwiderte: "Hmm... Ich hatte mir jetzt einen aus dem Lehrbuch ausgesucht, das geht hoffentlich auch..."
Bevor ich ihr jedoch antworten konnte, kam die Post.
Hunderte Eulen flogen durch die große Halle und suchten die Empfänger der Briefe und Pakete, die sie zustellen sollen.
Ein hellbrauner Waldkauz landete auf meinem Arm und sah mich mit seinen dunklen Augen freundlich an. Der Brief in seinem Schnabel trug zwar meinen Namen, doch konnte ich die Schrift niemandem zuordnen.
Nachdem ich dem kleinen Waldkauz noch ein Stückchen Brot mitgegeben hatte, schwang er sich in die Luft und verschwand mit den anderen Eulen aus der Halle.
Ich musste feststellen, dass auch Mary einen Brief mit der gleichen, engen Schrift erhalten hatte.
Ich war irritiert, aber sie hatte den Brief schon geöffnet und erklärte: "Unsere Noten für den letzten Trank, von Professor Snape. Er hatte ja gesagt, wir bekommen die noch... Oh nein, ich hab ein 'Mies' bekommen, das ist nicht mal bestanden... Aber immerhin schreibt er, dass das hauptsächlich daran liegt, dass ich nicht fertig geworden bin...", sagte sie enttäuscht.
Ich war ein bisschen nervös und erwartete ebenfalls keine sonderlich gute Note, aber: "'Erwartungen übertroffen', oha! Hat anscheinend nicht seine ganze Wirkung entfalten können, Professor Snape vermutet, das lag an zu langem Kochen, ich solle nächstes Mal mehr auf die Zeit achten... Ups."
Mary grinste mich an: "Jaja, immer diese Zeit!"

Ich wollte den Brief schon in meine Tasche packen, da entdeckte ich noch einen kleinen Zettel. Überrascht legte ich die Benotung zur Seite und zog ihn aus dem Umschlag: 'Es war nicht meine Intention, Sie und Ihre Geschichte vor der Klasse bloßzustellen.'
Es war zwar keine richtige Entschuldigung, aber ich konnte das so durchgehen lassen.

Nach einer anstrengenden Stunde Verwandlung bei Professor McGonagall saß ich in der Bibliothek, da ich erst einmal keinen Unterricht hatte. Die anderen aus meiner Klasse hatten gerade Wahrsagen, aber da ich bei der ZAG-Prüfung gnadenlos durchgefallen war, hatte ich es nicht weiter belegen können. Um ehrlich zu sein war deswegen ich nicht gerade traurig. Vor allem, da es seit einem Jahr eine neue Lehrerin für dieses Fach gab. Bis jetzt hatte ich nur mit Leuten gesprochen, die der Meinung waren, Professor Trelawney wäre geisteskrank.

Nachdem ich mir das Rezept für meinen Trank abgeschrieben hatte - ich wollte nicht das ganze Buch ausleihen - machte ich mich auf den Weg zu den Gewächshäusern. Ich wollte kurz mit Professor Sprout sprechen. Und ich hatte sogar Glück: Kurz nach einer Horde Zweitklässler verließ auch sie das Gewächshaus Nummer 3.
"Guten Morgen Professor Sprout!", rief ich ihr zu, damit sie mich bemerkte und nicht einfach wieder verschwand.
"Huch", sagte sie, während sie sich Erde von ihren Fingern wischte. "Wir haben doch erst in zwei Tagen zusammen Unterricht!"
"Ja und deswegen bin ich jetzt hier, ich wollte Sie kurz etwas fragen", erklärte ich ihr.
Die Verwirrung wiech aus ihrem Gesicht und sie lächelte mich an: "Nun, dann schießen Sie mal los!"
Ich zog das Pergament mit dem Rezept des Zaubertranks aus der Tasche meines Umhangs und zeigte auf die Zutatenliste: "Der Trank ist eine Aufgabe für Zaubertränke und ich bräuchte dafür bei Mondschein gepflückte Lunae-Knospen..."
Sie verdrehte leicht die Augen, dabei immer noch lächelnd. "Ja ich weiß, frisch ergeben sie eine bessere Wirkung... Ich kenn das von unserem neuen Meister der Zaubertränke!"
Noch bevor ich etwas erwidern konnte sprach sie weiter: "Gut, ich weiß, dass Sie eine vertrauensvolle Schülerin sind. Sie können sich nach dem Abendessen den Schlüssel zu Gewächshaus 5 abholen, aber passen Sie auf, in der Fünf sind die nachtaktiven Pflanzen!"
Sie zwinkerte mir zu. Ich war überrascht, wie einfach das gewesen war. Ich musste nicht einmal meine vorher gut zurechtgelegten Argumente anbringen.

Zwar durften Schüler nach dem Abendessen das Schloss nicht mehr verlassen, doch hatte ich indirekt eine Erlaubnis von Professor Sprout bekommen.
Als sie mir den Schlüssel zum Gewächshaus gegeben hatte, hatte sie mir erzählt, dass sie häufiger um so etwas gebeten wird, da viele Pflanzen ihre Wirkung in Tränken und Medikamenten nur gänzlich entfalten können, wenn sie zu bestimmten Tagen oder Zeiten gepflückt werden.
Jüngere Schüler würde sie für gewöhnlich begleiten, da ich aber volljährig war, konnte sie mich beruhigt alleine gehen lassen. Trotzdem warnte sie mich vorsichtig zu sein, da mein Weg mich am Rand des verbotenen Waldes entlangführte.

Bevor ich das Schloss verließ, hatte ich meinen grünen Slytherin-Umhang gegen einen einfachen schwarzen, dafür aber deutlich wärmeren getauscht.
Abends wurde es ziemlich kalt auf dem Schlossgelände und schon als ich die ersten Schritte aus dem Gebäude hinaustrat, erwies sich meine Entscheidung als richtig.

"Lumos", flüsterte ich leise und sofort begann die Spitze meines Zauberstabs zu leuchten.
Ich hörte das Laub unter meinen Füßen knacken und rascheln, ebenso die Schreie von Eulen, die vereinzelt ihre Kreise über den verbotenen Wald zogen.
Ich versuchte mich zu beeilen, da es mir hier in der Dunkelheit nicht allzu wohl war.
Ich hatte keine Angst, aber alles bekommt Nachts einen gruseligen Anstrich.

Umso erleichterter war ich, als ich endlich mein Ziel erreichte. Meine rechte Hand war leicht taub, da sie die ganze Zeit den Zauberstab gehalten und so der Kälte schutzlos ausgeliefert war. Demnach brauchte es einige Versuche, bis ich die Tür endlich aufgeschlossen hatte.
Ich verstaute den Schüssel sorgfältig in meiner Tasche und war überrascht, als ich das Gewächshaus betrat.
Innen war es tatsächlich so warm, dass ich meinen Umhang ausziehen konnte und ihn in einer Art Vorraum ablegte.

Professor Sprout hatte nicht gelogen, was die Aktivität dieser Pflanzen bei Nacht anging. Überall um mich herum summte und surrte es. Sogar etwas, das mich stark an eine Explosion erinnerte, konnte ich von Zeit zu Zeit leise hören.
Es war nicht schwer, das Lunae-Gewächs zu finden, da es die Eigenschaft hatte, im Mondlicht einen leichten Schimmer abzugeben.
Nachdem ich mich noch ein wenig umgesehen hatte, kam ich endlich zu dem Zweck meines kleinen Nachtspaziergangs: Ich pflückte eine gutes Dutzend der dunkel leuchtenden Knospen und verwahrte sie sicher in einem kleinen Lederbeutel.
Über Nacht würden sie sich gut halten, sodass ich direkt morgen mit dem Trank beginnen konnte.

Auf dem Weg zurück durch das Gewächshaus wurde ich fast von einer mir unbekannten Pflanze erschlagen. Ich hatte Glück, dass ich gerade noch ausweichen konnte.
Ihre ungewöhnlich dicken Äste bewegten sich wie Tentakel und zogen sich wieder zurück, nachdem ich mich ein Stückchen entfernt hatte. Ein wenig erinnerte sie mich an die peitschende Weide, allerdings stand diese nicht in einem rosa Blumentopf wie das hier vorliegende Exemplar.

Als ich wieder nach draußen trat, begann ich sofort zu zittern, da ich mich langsam an die Wärme im Gewächshaus gewöhnt hatte.
Nachdem ich wieder ordnungsgemäß abgeschlossen hatte, machte ich mich schnellen Schrittes auf den Weg zum Schloss.

Ich ging gerade am Rand des verbotenen Waldes entlang, von meinem warmen Bett träumend, als mich ein schriller Schrei aus den Gedanken riss.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt