Weihnachten

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Wir arbeiteten viel. Der Trank, den wir ausgearbeitet hatten, war einer der kompliziertesten, den ich je gesehen hatte.
Vor allem mussten wir viel experimentieren. In welchem Verhältnis wir die einzelnen Zutaten mischen mussten, wie lange es köcheln musste, welche Mengen... Kurzum, es war tagelange, kleinschrittige Arbeit, die durchgehend volle Konzentration erforderte. Nicht nur ein Mal waren wir kurz davor, von einem explodierenden Kessel erschlagen zu werden.

"Ok, Ende für heute", sagte ich erschöpft und lies mich auf einem Stuhl nieder.
Er sah mich empört an: "Es ist gerade einmal Vormittag!"
Ich grinste süffisant: "Erinnerst du dich noch an unsere Vereinbarung? Weihnachten bin ich bei meiner Familie."
Er blickte mich starr an. Fieberhaft dachte er nach und sagte plötzlich entsetzt: "Das ist schon heute?!"
"Ja?", antwortete ich ungläubig schnaubend. Wie konnte man Weihnachten vergessen?
"Wir haben doch erst den 24., morgen bist du auch pünktlich zur Bescherung und zum Weihnachtsessen zu Hause, versprochen!", sagte er fast schon verzweifelt.
"Oh", flüsterte ich und ärgerte mich über meine eigene Dummheit.
"Wir feiern am Abend des 24. Als wir von Deutschland nach Großbritannien gezogen sind, haben wir das einfach nie geändert."
Ich stand auf, begann meine Sachen zusammenzusuchen und sie in meinen Rucksack zu packen.
Wir hatten irgendwo in Südeuropa unser Zelt aufgebaut, da es hier zum einen wärmer war als in England, und man hier zweitens einige Pflanzen und Kräuter finden konnte, die wir für unseren Trank benötigten.
"Aber...", begann er und versuchte ein Argument zu finden, warum es besser wäre, anstatt nach einem guten halben Jahr endlich meine Familie wieder zu sehen, lieber bei ihm zu bleiben.
"Severus", seufzte ich. "Dieser eine Tag ändert exakt nichts. Ob ich jetzt heute oder morgen nicht hier bin, was soll's?"
Er setzte sich an den kleinen Tisch, auf dem noch immer Zaubertrankzutaten verstreut lagen und vergrub sein Gesicht in den Händen.
"Ok, jetzt ist der Moment, an dem du ein Mal ehrlich zu mir sein musst", sagte ich sanft und setzte mich ihm gegenüber.
Er blinzelte durch seine blassen Finger und ich erkannte einen Hauch Wahnsinn in seinen schwarzen Augen.
"Ehrlich?", fragte er mit erstickter Stimme.
"Ja", antwortete ich ihm. "Weißt du noch, als ich zu dir sagte, dass ich mehr Zeit mit dir verbringe, als mit all meinen Freunden zusammen? Traurig - aber wahr. Tatsächlich kann ich mir selber nicht erklären, warum ich das alles einfach so mitmache. Aber verdiene ich dafür nicht zumindest Ehrlichkeit? Ich weiß nicht, wer du tatsächlich bist. Doch kann ich so viel sagen, dass du niemand bist, der aus purer Barmherzigkeit einen Trank entwickelt, mit dem man den Todesfluch überwinden kann. Also, beantworte mir nur die eine Frage: Warum das alles?"
Er antwortete mir nicht gleich. Doch ich wollte ihm wenigstens die Chance dazu geben. Trotzdem ließ ich ihn nicht aus den Augen und beobachtete ihn wachsam.
"Ich tue es für einen bestimmten Menschen, der es wert ist zu leben", antwortete er schließlich leise, aber mit fester Stimme.
"Wer?", fragte ich überrascht. Auf mich hatte er immer wie der typische Einzelkämpfer gewirkt. Als wären seine Mitmenschen nur ein notwendiges Übel seiner Existenz.
"Nun...", begann er. Ich merkte ihm deutlich an, dass er jedes weitere Wort mit Bedacht wählte: "... eine alte... Freundin von mir. Sie schwebt in großer Gefahr."
Ich dachte einen Moment darüber nach. Sie musste sehr wichtig für ihn sein, wenn er diese ganzen Bemühungen auf sich nahm, um sie zu retten.
Ich konnte das nicht mit dem Bild in Einklang bringen, dass ich von ihm hatte. Ich war mir immer bewusst gewesen, dass ich ihn zu wenig kannte - und er mir vor allem zu wenig offenbarte, um überhaupt ein Bild von ihm haben zu können. Doch wenn man so viel Zeit mit jemandem verbringt, müsste man ihn doch zumindest bis zu einem gewissen Grad einschätzen können? Zumindest hatte ich mir das eingebildet.
"Vielleicht sollten wir aufbrechen", schlug er mir schließlich vor und wirkte wieder vollkommen normal und gefasst.
"Äh... Ja...", sagte ich nur, noch immer in Gedanken.
Ich hatte Ehrlichkeit eingefordert, um alles besser zu verstehen. Doch hatte es das komplette Gegenteil bewirkt. Der wenigen Dinge, deren ich mir sicher gewesen war, war ich beraubt. Ich fühlte mich, als sei ich bei Dunkelheit in einen leeren Raum gesperrt, unfähig rechts und links zu bestimmen, zu sagen, welche Position ich im Raum eingenommen hatte, wo er begann und wo er endete. Ich war komplett gefesselt in meine Grübeleien und die unerfolgreichen Versuche meine momentane Situation einzuordnen und zu verstehen.
So entging mir, dass er anstatt 'du' 'wir' gesagt hatte.

Deep down inside me.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt