Kapitel 24

3.1K 127 5
                                    

"Warum bist du hier?" frage ich verwirrt und Liv schaut für einen Moment auf den Boden.
Dann hebt sie wieder den Blick und sieht mir fest in die Augen.

"Wir müssen reden"

Ich verstehe nicht, worauf Liv hinaus will und sehe sie einfach nur verdattert an. Doch Liv verzieht keine Miene, ihr Ausdruck ist absolut ernst. "Können wir irgendwo unbeobachtet reden?" fragt sie und ich gerate ins grübeln. Liv meint es anscheinend wirklich ernst und was auch immer es ist, über das sie mit mir sprechen will, es muss verdammt wichtig sein. Plötzlich habe ich eine Idee und nicke langsam. "Komm mit" Ich drehe mich um und laufe mit ein paar schnellen Schritten vorne weg, während Liv mir dicht auf den Fersen ist. Die ganze Zeit über beschäftigt mich die Frage, warum zur Hölle Liv hier her gekommen ist. Und irgend etwas in mir sagt mir, dass sie ohne Erlaubnis und ohne Benachrichtigung hier ist. Aber was zur Hölle ist so wichtig, dass Liv, ausgerechnet die Verantwortungsvolle Liv, ein so hohes Risiko eingeht rausgeschmissen zu werden?
Der Zug nähert sich geschwind an und ein Pfeifen lässt seine baldige Ankunft erahnen. "Der bleibt doch wohl hoffentlich stehen oder?" fragt Liv und sieht mich leicht entsetzt an. Ich werfe ihr einen entschuldigenden Blick zu. "Das wird dir jetzt nicht gefallen." Als der erste Waggon an uns vorbei rast, beginne ich zu rennen. Noch ein wenig geschockt beginnt Liv ebenfalls los zu laufen, sie läuft dicht hinter mir. Auf Höhe des dritten oder vierten Waggons atme ich tief durch und schmeiße ich mich mit einem Sprung nach rechts. Meine Hände finden Halt an den Griffen der Tür, mit Schwung reiße ich sie auf und ziehe mich hinein. Etwas atemlos lehne ich mich gegen die Wand, bin unglaublich stolz darauf es alleine hier rein geschaffen zu sein. Mit einem dumpfen Aufprall landet Liv auf allen vieren neben mir. Ihr Atem geht keuchend und sie presst die Luft stoßweise aus. "Seid...ihr immer so...lebensmüde?" fragt sie rasselnd und sieht zu mir auf. In ihren Augen erkenne ich jedoch ein gewisses Funkel und ich bin mir sicher, dasselbe Funkeln hatte auch ich in meinen Augen. Damals, als ich das erste Mal auf einen fahrenden Zug aufgesprungen bin.
Ich grinse Liv einfach nur an und lasse mich dann an der grauen Wand hinunter rutschen. "Also - warum bist hergekommen?" Liv richtet sich auf und setzt sich mir gegenüber. Noch immer außer Atem fängt sie an: "Und du bist sicher, dass hier keine Kameras sind?" Ich nicke. "Gut" Sie lehnt ihren Kopf gegen das graue Metall und schließt für einen Moment ihre Augen. "Du hattest mit Allen Recht" Die grünen Augen der Ken bohren sich in meine und ich kann sie nur verwirrt anblinzeln. "Recht womit?" - "Mit Allen. Die Langzeittransmitter, dem Simulationsserum, der Kontrolle..." Ein paar Minuten brauche ich noch, dann verstehe ich worauf Liv hinaus will. Jeanine. "Ich habe das Serum genauer untersucht und folgendes festgestellt: Die Transmitter sorgen für eine anhaltende Simulation. Man ist zwar bei Bewusstsein und nimmt auch noch alles wahr, allerdings reagiert man nicht mehr. Die Reaktionen werden von einem Kontrollcomputer geleitet, er sagt ganz genau was die Person tun soll. Sei es etwas zu fangen, jemanden zu schubsen oder..." Liv schluckt und die nächsten Worte hängen ihr tief im Magen. "Oder was?" hake ich ungeduldig nach. "...oder einen Menschen zu töten. Man hat absolut keine Reaktionsgewalt. Es ist unmöglich sich aus dieser Simulation selbst zu befreien, dies geht nur, wenn das Programm heruntergefahren wird. " Der Inhalt ihrer Sätze schockt mich. "Das bedeutet...wer auch immer dieses Serum gespritzt bekommt...er wird zu einer willenlosen Marionette...?" frage ich zittrig und meine Stimme hört sich brüchig und viel zu hoch an. Wozu sollte Jeanine so etwas brauchen...?
Als hätte Liv meine Gedanken gelesen, sagt sie: "Jeanine will mit Hilfe dieses Serums die Altruan stürzen. Vielleicht ist es dir aufgefallen, seit Wochen wird dieses Serum an die Ferox geliefert. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, was genau sie vor hatte, aber jetzt..." Sie muss nicht weiter reden, die Antwort liegt in der Luft. Jeanine wird mit diesem Teufelszeug die Ferox in willenlose Soldaten verwandeln und sie zu Mördern machen. Jeden Einzelnen. Bilder von Cia, Peter, Emily und Alex schießen mir durch den Kopf. Sie lachen, sind glücklich. Doch schon bald wird an ihren Händen ungewolltes Blut kleben. Und das alles nur durch meine Mutter.
In diesem Moment schließe ich einen Entschluss: Ich werde Jeanine aufhalten. Koste es was es wolle.
"Wann?" Die Worte sind kaum mehr als ein Flüstern meinerseits und Liv zuckt leicht mit den Schultern. "Das weiß ich noch nicht, aber rechne damit, dass es jeden Tag beginnen könnte." Mein Blick gleitet zu der braunhaarigen Ken. "Wir müssen Jeanine aufhalten" Es war keine Frage, es war eine Aussage. Liv nickt. "Ich werde alles Mögliche tun. Ich werde versuchen die Verbindungsdaten der Transmitter zu beschädigen und das Serum untauglich zu machen. Sobald ich etwas Neues weiß, melde ich mich bei dir." Nun liegt es an mir zu Nicken. "Ich versuche irgendetwas heraus zu finden, vielleicht erfahre ich, wann sie den Angriff planen" sage ich, wenn auch mehr zu mir selbst. Liv gibt ein zustimmendes Geräusch von sich und danach schweigen wir. Und als irgendwann das Gebäude der Ken in Sicht kommt, steht sie auf. Die junge Frau streicht sich einmal durch die wirren Haare und sieht dann zu mir. "Wir schaffen das schon, Claire. Irgendwie" Mein Mund verformt sich zu einem gezwungenen Lächeln. Alleine werden wir das hier niemals schaffen können. Und das weiß Liv genauso wie ich.

Noch immer bin ich überrascht, als ich schließlich an der Kante des Waggons stehe und mich auf den Absprung vorbereite. Ohne zu Zögern war Liv von dem fahrenden Zug angesprungen, wusste man es nicht besser, konnte man glatt meinen sie wäre ein Ferox. Doch das Blau ihrer Kleidung zeugt anderes. Blau. Die Farbe der Ken. Einst war diese Farbe für mich ein Stück Heimat und Geborgenheit, heute verabscheue ich sie. Nun, besser gesagt ihre Führerin verabscheue ich, nicht die Fraktion oder die Farbe selbst.
Mehr oder weniger elegant lande ich auf meinen Füßen und laufe ein paar Schritte um die Wucht anzufedern. Der Boden hat aufgehört sich unter mir zu drehen, ich beginne Richtung Ferox Hauptgebäude gelaufen. Doch das, was da vor steht, lässt mich komplett bleich werden.
Knurrend, gegen die Mauer gelehnt und mit verschränkten Armen wartet Eric vor dem (ich betone, EINZIGEN) Eingang. Zunächst flackern seine Augen unruhig über die Fläche, doch schon bald haben sie mich ins Visier genommen. Er stößt sich von der Wand ab und kommt auf mich zu. Er kommt mir plötzlich gefährlicher als je zuvor vor und am liebsten würde ich wegrennen. Aber wohin? Außerdem: Eric würde mich mit Sicherheit wieder einfangen.
Eric geht so dicht an mich heran, dass sein Oberkörper meinen streift. Sein breites Kreuz nimmt mir jegliches Sonnenlicht und durch den entstandenen Schatten wirken seine Augen bedrohlich. Und er sieht verdammt wütend aus.
Das einzige, was ich denken kann, ist:

Oh Shit.

Unique - das erste Buch der »Unique« Reihe Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt