31 Heimat

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"Der Plan gefällt mir absolut nicht," maulte ich, während Kyle mir seine große Hand hinhielt. 

Der Fußweg zu seinem Landhaus war wunderschön, aber nur wenn man in einer gepolsterten Limousine saß. Mit den hohen Schuhen sank ich bei jedem Schritt weit in die Kieselsteine ein, was das Laufen sehr erschwerte. Nachdem ich zum hundertsten Mal einen schmerzenden Stein aus meinem Schuh holen musste und wieder einmal knapp über dem kalten Boden kniete, hielt Kyle es nicht mehr aus.

"Wir haben keinen besseren." stellte er richtig fest.

"Leider." jammerte ich weiter und schüttelte den kleinen Übeltäter aus dem Schuh.

Im nächsten Moment, wurde ich fast kopfüber in die Luft geworfen und landete alles andere als sanft auf Kyles breiten Schultern. Ein Schrei entfuhr meiner Kehle und ich trommelte mit meinen Fäusten auf seinem Rücken, doch er dachte gar nicht daran, mich wieder runterzulassen.

"Was soll das?" kreischte ich. Der Boden kam meinem Gesicht immer näher, bis Kyle mich an der Hüfte wieder zurückzog.

"Wenn wir in dem Tempo diese kurze Einfahrt weiterlaufen, dann kommen wir erst in einer Woche an." erklärte er jetzt freundlicherweise, warum er mich einfach das letzte Stück zum Haus getragen hatte.

Eigentlich war mein Plan dieser Feststellung ziemlich ähnlich. Nachdem sein Fahrer uns direkt nach der Schule abgeholt hatte, eine kleine Französin mich hektisch und händeringend in ein hübsches Kleid gesteckt hatte und wir nicht einmal eine kleine Mittagspause eingelegt hatten, hatte ich den Chauffeur gebeten, uns ein paar Meter vorher rauszulassen, um einen freien Kopf zu bekommen. Den hatte ich jetzt auch. Mir fiel absolut nichts ein, was mich aus dieser prekären Situation retten konnte, in die mich Kyle hier hinein manövriert hatte. Seine brillante Idee war es, seinen Plan erst einmal an einem seiner Freunde auszuprobieren. Meiner Meinung nach brachte dieses Vorhaben überhaupt nichts. Aber wie so oft, konnte ich mich nicht durchsetzen und stand jetzt völlig durchgeschüttelt vor dem Tor des Landhauses.

Kyle betätigte die Klingel und wenige Sekunden später öffnete ein Dienstmädchen, das so aussah, als wäre sie aus einem Film entsprungen. Kritisch musterte ich Kyle.

"Meine Mutter will nicht, dass das Ambiente durch unpassende Kleidung zerstört wird." murmelte er.

"Und deshalb trägt euer Personal Kleider aus dem Mittelalter? Wahrscheinlich auch noch Original aus rauem Leinen und Korsetts aus Fischgräten?"  lachte ich.

Er biss sich nur auf seine Lippe und schloss die Augen. Irgendwie fing er an mir Leid zu tun. Nach außen hin war er immer der eiskalte Typ, aber je weiter ich hinter die Fassade sah, desto mehr Gemeinsamkeiten fand ich. Auch ich wurde schließlich von meiner Familie unterdrückt. Deshalb war ich hier.

Als ich meinen Blick wieder von seiner perfekten Kontur wendete, lehnte ein Junge an dem hölzernen Treppengeländer. Auch seine Augen waren eisblau und stechend, sein Haar aber in einem matten braun. 

"Der trägt aber kein Korsett." kicherte ich und auch Kyle musste schmunzeln. 

Der Junge hob eine Augenbraue und musterte mich, als ob ich ein Ausstellungsstück wäre. Sein Blick machte mich nervös. Mit meiner kalten Hand strich ich mir ein paar Strähnen hinter mein Ohr, während ich wartete, dass Kyle mir verriet, wer das war.

"Kate, das ist Felix. Felix - Kate." sagte er jetzt und sah dabei keinen von uns an.

"Also ich kauf es euch ab." war das erste, das Felix sagte.

Fragend sah ich zwischen Kyle und Felix hin und her. Konnte mir mal bitte jemand erklären was hier vor sich ging? Ich dachte, wir würden uns mit einem von Kyles Freunden zusammensetzen, den Plan Schritt für Schritt durchgehen, feststellen, dass er niemals funktionieren würde und uns dann etwas weniger Unmögliches ausdenken.

"Du hast den Test bestanden." teilte mir Kyle fröhlich mit, "darauf können wir ja jetzt anstoßen."

Ich verstand immer noch gar nichts. Felix hatte sich unterdessen vom Geländer gelöst und kam jetzt auf mich zu. Ohne Scheu nahm er mich in den Arm und ließ mich genauso schnell wieder los. Sein Geruch glich dem von Kyle, nur hatte er einen Hauch mehr... Sympathie. Während ich über meine eigenen Gedanken schmunzelte, hatte Felix meine Hand genommen. Im Gegensatz zu seinen Augen war sie warm.

"Willkommen im Bund." flüsterte er verschwörerisch und sah mir tief in die Augen. Dann brach er zusammen mit seinem Freund in Lachen aus.

"Du hättest deinen Blick sehen sollen!" rief er, als er Luft geholt hatte.

Kyle bemerkte endlich, dass ich aussah wie ein lebendes Fragezeichen und erbarmte sich, mich aufzuklären.

"Felix wusste nicht, dass du diejenige bist, die er testen sollte. Ich wollte wissen, ob wir als Paar durchgehen und anscheinend tun wir das."

"Bis er mir das Zeichen gegeben hat, dachte ich wirklich, Kyle hätte zur Abwechslung mal eine Hübsche abgeschleppt." ergänzte Felix lachend.

Mir war nicht besonders nach Lachen zu mute, aber ich verstand. Es ging nicht um den Plan, es ging um mich. Und es beängstigte mich sehr, dass ich als Kyles Freundin durchgehen würde. Aber was tat man nicht alles für die Liebe? 

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Die Sonne stand tief am Himmel und erhitzte auf die gebückten Rücken der Arbeiter, die langsam und völlig erschöpft nach Hause wanderten. Das Gras am Wegrand war fast völlig braun und die vereinzelten Bäume warfen lange Schatten. Ich schlürfte in meinem eigenen Rhythmus über den holprigen Weg. Meine Arme brannten wie Feuer nach dem langen Tag und meine Beine waren schwer wie Blei. Einen Fuß vor den anderen setzend ging ich meines Weges, immer dem roten Feuerball zugewandt, der langsam im Horizont versank.

Als ich endlich zuhause ankam, waren alle in Aufbruchstimmung. Adamina trug ihr rotes Sommerkleid, ihre schwarzen Haare fielen ihr glänzend über den Rücken bis zur Hüfte. Nur eine kleine Spange bändigte die Locken. Ihre Füße tänzelten über den nackten Boden, sie umarmte mich und wandte sich dann wieder Marias Frisur zu. 

"Mi hijo, wir haben auf dich gewartet" rief Mamá, als sie mich erblickte und mir einen Kuss auf die Wange drückte. "Das Fest ist nur ein mal im Jahr, wir wollen nicht zu spät kommen!" 

Antonio saß in der Ecke und wischte sich immer wieder den Schweiß von der Stirn. Ich setzte mich zu ihm und ruhte meine Beine aus. Während der zähen Arbeit hatte ich das Fest total vergessen. Mamá und Adamina steigerten sich komplett hinein und holten ihre besten Kleider aus dem Schrank, während Maria dort nur unter den Tischen spielte und Antonie seufzend Mädchen hinterhersah, die er nie ansprechen würde.

Der Weg zum Festplatz war nicht weit, aber schon dort begegneten uns viele Bekannte und immer wieder blieben wir stehen, um das neueste auszutauschen. Ich hielt mich mit Maria auf dem Arm im Hintergrund, obwohl jeder mich kritisch ansah. Im Klatsch und Tratsch war ich derzeit das beliebteste Thema überhaupt:"Der Americano ist zurück, weshalb ist er nicht in Europa?". Die meistgestellteste Frage war wohl "Welches Mädchen wird er heute verführen?". Was die Menschen nicht wussten war, dass ich mich verändert hatte. Kate hatte mich verändert.

Meine kleine Schwester begann leise zu wimmern und ich ging ein paar Schritte weiter, wo es etwas ruhiger war. Von fern hörte ich das schnelle Trommeln und Klatschen des Fests und mein Herz begann im selben Rhythmus zu schlagen. Die Musik schob die Gedanken aus meinem Kopf und auch Maria schien sich zu beruhigen. Mit offenem Mund schaute sie mich an, ihr kleinen Hände an meiner Brust. 

"Tierruca" lächelte sie.

"Si." murmelte ich. Genau das war meine Heimat. 

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Gewidmet an jemanden, der mich immer motiviert weiterzumachen. Gracias.







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