23 Halt-los

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Mit geballten Fäusten saß ich an der langen Tafel und betete, dass ich den Abend überlebte, ohne jemanden umzubringen. Mit jeder Sekunde, mit jedem Wachstropfen, der die roten Kerzen entlangrann, schwand meine Hoffnung. Ich musste mich darauf konzentrieren, meine Nägel in die schmerzenden Handflächen zu drücken, damit ich nicht anfing zu zittern. Obwohl überall Kerzen standen und am anderen Ende des Raumes die Flammen im Kamin loderten, wurde mir nicht warm. Verbissen blendete ich alle Gespräche um mich herum aus, sodass ich nur noch ein gleichmäßiges Rauschen hörte, das mal die Gläser vibrieren ließ, mal die Flammen erzitterte. Jedes mal, wenn mein Gegenüber seine Hände bewegte, zuckte ich zusammen und sah schnell in eine andere Richtung. Sein hämisches Grinsen sah ich trotzdem.

"Willst du noch etwas zu trinken, Kate?" riss mich eine glockenhelle Stimme aus der Konzentration.

Auf einmal hörte und sah ich wieder alles.

Etwa zehn Personen saßen an einer langen, hölzernen Tafel in einem großen Saal. Im Feuer zerbrach gerade ein Zweig, jemand schlug aus Versehen mit der Gabel gegen sein Weinglas und brachte es beinahe zum Überschwappen und alle starrten mich an.

"Äh.... nein, danke?" 

Die Aufmerksamkeit wurde von mir genommen, als jemand am anderen Ende des Tisches von seinem Stuhl emporsprang und mit leisem Fluchen und einer Stoffserviette versuchte, den edlen Rotwein von seiner eleganten und sicher teuren Hose zu wischen.

Einzig die eisernen Blicke gegenüber von mir ließen mich keinen Moment aus den Augen. Leider gehörten sie Kyle.

"Schau nicht so" zischte ich.

"Wie?" fragte er mit einem angehobenen Mundwinkel. Er sah zum Anbeißen aus. Wortwörtlich. 

Obwohl wir bei ihm zuhause waren, hatten sich hier jeder aufgedonnert wie zu einer Hochzeit. Und so etwas ähnlich war das ja. Kyle trug einen maßgeschneiderten Anzug von Armani oder etwas Vergleichbarem. Seine Frisur saß wie immer und sein Blick war so stechend wie eh und je. Und diese Lippen machten mich wild. Wild darauf in sie zu beißen, bis das Blut spritzte.

Irgendwas an meinem Ausdruck musste den armen Jungen wohl verschreckt haben, denn er runzelte seine Stirn und senkte seinen Kopf für einen Augenblick, bis er mich wieder ansah. Ich leckte mir über die Lippen und biss dann in eine Frucht, die auf einem glänzendem Teller vor mir gestanden hatte. Kyle brach schon in Lachen aus, bevor ich realisierte, was passiert war.

Um ein Haar hätte ich mir die Zähne an der Dekoration ausgebissen und ihm fiel nichts besseres ein, als mich auszulachen. Und alle sahen mich wieder an. Super.

Während ich noch würgte und versuchte die kleinen Holzsplitter auszuspucken, erhob sich die Frau mit der glockenhellen Stimme. Es gehörte sich offensichtlich nicht, sich in einer so vornehmen Gesellschaft so zu benehmen. Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt, was sie jetzt ankündigen würde.

"Dürfte ich Sie kurz bitten, mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken?" begann sie schon unheilverheißend. Natürlich durfte sie. Von den Ledersitzen über den Holzscheiten im Feuer bis zu den Kristallen im Kronleuchter gehörte ihr hier alles. Oder ihrer Familie. Und somit auch Kyle.

Ein paar Stühle wurden verrückt, schlitterten über den Holzboden und schließlich war alles still.

"Nun." sie holte tief Luft.

"Bitte, bitte, bitte, überdenk' was du jetzt sagst." betete ich im Inneren weiter, aber es schien nicht zu helfen.

"Wir haben uns hier versammelt, um-"

"Um einfach in einem guten Freundeskreis zusammen zu essen und zu trinken und dann glücklich und satt nachhause zu fahren?" warf ich ein. Es war sowieso zu spät.

"Nein, Kate. Wir haben uns hier zusammengefunden, um etwas zu feiern. Und zwar- "

Ich sprang auf und schenkte der Runde mein schönsten gekünsteltes Lächeln

"Und zwar das Jubiläum der rein platonischen Freundschaft unserer beiden Familien. Wie schon erwähnt, ist das ein Grund zu feiern. Vor allem das platonische daran gefällt mir."

"KATE!" rief jetzt mein Vater.  "Setz dich und sei still."

Schmollend setzte ich mich in Zeitlupe wieder auf meinen Platz. Immerhin hatte ich es versucht.

"Danke Mr.O'Sullivan. Ich bitte um keine weiteren Unterbrechungen. Wir sind hier, um den ersten Schritt in die richtige Richtung zu würdigen. Nachdem Kyle und Kate volljährig geworden sind, werden wir alles daran setzen ihnen das beste Leben zu bieten, das sie zusammen haben können. Ja, zusammen, denn sie werden sich und somit unsere Familien vereinigen. Nur zusammen können wir auf dem unsicheren Markt bestehen und das Vermögen im Interesse beider halten und vor allem erweitern. Dieser Schritt hat seine Opfer, aber wie bei jeder Opferung steht das große Ziel im Vordergrund. Und das einzige, was meiner Meinung nach noch eine Belastung werden könnte, ist die Auswahl eines Brautkleides. Wobei ich eindeutig vom viktorianischen Stil abrate..."

Immer mehr wandte sich Mrs.Grahams meiner Mutter zu. Schon bald befanden sie sich in einer regen Diskussion über irgendwelche unbedeutende Details einer Hochzeit, die niemals stattfinden würde. Meiner Hochzeit. 

Die Männer schlugen ein paar mal in ihre kräftigen Hände, die noch nie richtig gearbeitet hatte und führten dann ihre Gespräche über den Kursverlauf ihrer Aktien fort.

Kyle spielte mit dem Siegelring an seinem Finger. Immer wieder drehte er ihn im Kreis, zog ihn über den Knöchel und steckte ihn sich wieder an. Anscheinend wollte er das üben. 

Mir wurde schlecht.

Ich erhob mich und der Stuhl hinter mir fiel polternd zu Boden. Kyle blickte auf und sah mich fragend an.

"Alles klar?" fragte er mich und zum ersten Mal klang seine Stimme nicht arrogant.

"Ja. Ja, ich brauch nur frische Luft." 

Schnell stellte ich den Stuhl wieder auf und entschuldigte mich bei den anderen. Hastig flüchtete ich aus dem Portal. Auf dem Flur kannte ich mich nicht aus. Alles war überdimensional, sogar die Treppe war so gebaut, dass mehrer Leute sie gleichzeitig, nebeneinander betreten konnten. Ein paar mal warf ich meinen Kopf von links nach rechts, aber nirgends stand ein Schild mit der Aufschrift "Freiheit". Schließlich rannte ich einfach die Treppe nach oben. 

Oben angekommen sah ich endlich ein Fenster. Nein, es war eine riesige Schiebetür, die auf eine Terrasse führte. Mit viel Kraft zog ich sie ein Stück weit auf, gerade so weit, dass ich durchpasste. Ich war draußen.

Ein kühler Wind verwehte meine Haare und ich bekam eine Gänsehaut. Langsam ging ich bis zum Eisengeländer. Ich umklammerte es so fest, dass meine Knöchel deutlich hervortraten. Dann ließ ich locker. Und auch die Tränen lösten sich langsam aus der Starre in meinem Gesicht und liefen mir über beide Wangen. Es war fast so kalt, dass sie sofort wieder einfroren, aber stattdessen hinterließen sie eine brennende Spur auf meiner Haut. Das selbe Brennen spürte ich in mir. Ich war hilflos einer anderen Familie überlassen worden. Den Grahams.

Das Quietschen der Tür hinter mir erschreckte mich fast zu Tode. Trotzdem wollte ich mich nicht umdrehen, ich wollte meinen einzigen Halt, das Geländer nicht loslassen, obwohl auch meine Hände vor Kälte brannten. Ein leises Schluchzen entfuhr mir. Jemand legte seine Arme um mich und wiegte mich im Rhythmus meines Herzschlags.

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Ja. Das ist ein neues Kapitel nach so ewiger Pause. :o Ich habe wirklich lange nicht mehr geschrieben und musste demnach am Anfang erst wieder reinkommen, aber ich hoffe es gefällt euch trotzdem :)

Wollt ihr eigentlich wieder Szenen aus Taylors Sicht?













So wie du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt