30 Vergangenheit

81 7 7
                                    

Mit voller Wucht schlug ich die Schließfachtür vor mir zu. Das aufeinandertreffende Metall machte ein ungesundes Geräusch, im Inneren des Schranks fiel irgendetwas um. Der Schlag ließ mich kurz zusammenzucken, dann setzte ich mein schönstes, künstliches Lächeln auf.

"Raus. Sofort. Reden." zischte ich durch die zusammengebissenen Zähne.

Kyle stand völlig verdutzt vor seinem Schrank und sah sich nach einer Erklärung um. Er rückte seine Krawatte zurecht und nestelte an dem Knopf seiner Schuluniform herum. Irgendwie leidend betrachtete er sein Schließfach, in dem gerade etwas zu Bruch gegangen war. Noch nie hatte ich ihn so hilflos gesehen, aber für alles gab es bekanntlich ein erstes Mal. 

Ich hielt mich so gut es ging zurück, ihm den Arm nicht einfach auszureißen, während ich ihn aus dem Gebäude zog. Im Hof spielten ein paar der jüngeren Schüler Rugby im Schlamm. Die Sonne blendete und obwohl ich die Kraft der Strahlen spüren konnte, war es erstaunlich kühl. Der Geruch des Meeres hing in der Luft, vermischt mit dem des Cafeteria-Essens. Etwas brutal zog ich Kyle vor mich. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, als ich sah, dass er immer noch den Unschuldsengel spielte.

"Wirklich, was auch immer du hast, ich bin unschuldig." beteuerte er, "Der Plan startet erst auf mein Zeichen."

Er musste ein guter Schauspieler sein, denn seine Mine verriet nichts, über seine wahren, hinterhältigen Gedanken. 

"Warum hetzt du mir Bella Riordan auf den Hals?!" knurrte ich, in der Hoffnung, dass wenigstens dieses Rätsel bald gelöst sein würde. Aber Fehlanzeige.

"Bella?" fragte er zögernd, als ob das etwas wäre, das er einmal vor langer Zeit gehört, aber schon vor Ewigkeiten wieder vergessen hatte.

Offensichtlich wollte er mich auf die Geduldsprobe stellen. Und ich würde verlieren. Denn ich war sauer. Stinksauer. Wenn er mir nicht innerhalb kürzester Zeit eine befriedigende Antwort gab, würde ich wild um mich schlagen und schließlich völlig kraftlos im Boden versinken. Mit meiner Kraft war ich am Ende und trotzdem meinte er wohl, mit mir spielen zu müssen.

"Du weißt ganz genau wen ich meine. Was hast du mit ihr? Ist das dein wahrer Plan? Mich einfach aus dem Land zu EKELN, damit du mich nicht heiraten musst? Glückwunsch, ich gehe freiwillig, wenn ich noch einen Rückschlag wegstecken muss." schrie ich ihn jetzt an.

Seine Hand wanderte zu seinem Nacken. Irgendwie sah er knuffig aus, in seiner Uniform und den hellblonden Haaren, die sich aus der Frisur lösten und ihm vom Kopf abstanden. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf, schindete Zeit. Dann endlich sprach er.

"Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen...," begann er, aber ich musste ihn unterbrechen.

"Ja, habe ich gemerkt. Du steckst mit ihr unter einer Decke." rief ich wütend.

"Naja, das war mal," schmunzelte er. Dann räusperte er sich und wurde wieder ernst. "Nein, ich meine es ernst. Sie wurde mir zu anhänglich, ich hab sie abgeschossen. Ist das so ein Wunder?" 

Das konnte doch nicht wahr sein. Ausgerechnet die Person, mit der mich meine Eltern blöderweise verheiraten wollten, hatte etwas mit meiner Erzfeindin gehabt, die sich wiederum an meinen Exfreund rangemacht hatte. Natürlich. Mein Wut verwandelte sich in Verzweiflung. Das Leben war zu kompliziert für mich. Kyle bemerkte das Glitzern in meinen sowieso schon geröteten Augen, bevor ich mich abwenden konnte. Er legte vorsichtig eine Hand auf meine Schulter, wie um mich zu beschwichtigen.

"Hey, das ist vorbei, ok? Ich hab nichts mehr mit ihr und ich hab sie auch nicht auf dich gehetzt." sagte er jetzt viel ruhiger.

Seine tiefe Stimme beruhigte das aufbrausende Meer der Gefühle in mir. Als er mich an der Schulter näher zu sich zog, glätteten sich die stürmischen Wellen etwas. In dem Moment, als ich den Widerstand aufgab und er beide Arme um mich schlang, rissen die trüben Wolken in meinem Kopf auf und ich sah endlich wieder die Sonne, wie sie auf uns herabschien, die kalten Steine auf dem Hof erwärmte und das Glück wieder in die Menschen brachte.

___________________________________________________

Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch die dünnen Vorhänge in mein Gesicht. Das Bett knarzte, als ich mich umdrehte, um noch kurz die Dunkelheit und die Stille zu genießen. Über mir regte sich Maria unter ihren Decken. Der Raum war klein und vollgestellt. Ein Stockbett, dessen unteres Bett ihm seine Schwester Adamina überlassen hatte, die jetzt in der Küche schlief. Dort klapperte jemand leise mit Töpfen und ich hörte das leise Plätschern von Wasser. Noch einmal schloss ich die Augen. 

Vor mir sah ich sie, Kate, alleine auf dem Schulhof, wie sie sich selbst umarmte, um sich warm zu halten. Sie sah so klein aus, verloren ohne mich. Doch dann bewegte sich etwas aus dem Schatten heraus. Ein Junge kam direkt auf sie zu und sie lächelte ihr strahlendes Lächeln, dass sie nur mir geschenkt hatte. Schnell schlug ich die Augen wieder auf.

Mit Schwung stieg ich aus dem Bett, zog mir eine Jogginghose und ein altes Shirt über und schlürfte in die Küche. Dort saß Mamá, allein an die dünne Holzwand gelehnt. Vor ihr blubberte es sanft im Kochtopf, durch das Fenster kam goldenes Licht. Ich setzte mich ihr gegenüber auf den alten Stuhl und schlürfte aus der Tasse, die sie mir hingestellt hatte. Adamina und Antonia waren noch im Morgengrauen in die Schule gehuscht. 

"Mein Junge..." begann Mamá, als sie mich sah. "Ich habe dich so vermisst, mi hijo."

"Ich dich auch Mamá." murmelte ich.

"Seit dein Vater uns verlassen hat,..." 

Ich musste sie unterbrechen. Die Geschichte brach ihr jedes mal, wenn sie sie erzählte, das Herz. Ich kannte sie in und auswendig. Mein Vater war US-Soldat gewesen, eine seiner Stationen war Caracas gewesen und wohl auch meine Mutter. Noch während sie schwanger war, verließ er sie wieder und niemand von uns wusste, ob das aus beruflichen oder teuflischen Gründen geschah. Denn nur ein Teufel konnte einer solchen Frau so etwas antun. Mamá wurde aus ihrer Familie ausgestoßen, nachdem bekannt wurde, dass sie ein uneheliches Kind erwartete: mich. Sie gab mir aus Liebe zum Vater seinen Namen. Unsere kleine Familie musste aus der bürgerlichen Gegend hierher ziehen, zum verhassten Stadtrand, wo meine Geschwister später aufwuchsen. Noch immer wurde mein Herz schwer, wenn ich hörte, was meiner Mamá wegen mir genommen wurde. Ihr gutes, einfaches Leben. Doch sie beschwerte sich nie. Und jetzt hatte ich mein Leben in Irland aufgegeben, um ihres zu retten. Der Kreis schloss sich. Immer.






So wie du bistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt