35 Goodbye Ireland!

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Nur langsam trocknete die Kleidung auf meiner durchgefrorenen Haut. Der Stoff wurde klamm und hart, aber mir war das egal, solange er nur da war. Meine Hände und Füße waren schon blau angelaufen und taten so weh, dass ich es nicht mehr schaffte, mir die Schuhe anzuziehen. Nur mit Mühe brachte ich es überhaupt zu Stande, sie in meiner Hand zu halten, denn die Kontrolle über meine Gliedmaßen schwand Sekunde um Sekunde, Schritt für Schritt. Trotzdem ging ich weiter, obwohl es eher ein unregelmäßiges Holpern und Stolpern war, in dem ich mich fortbewegte. Das Morgenrot wurde immer heller und die Schatten der Bäume kürzer. Wärmer wurde es nicht.

Nach gewühlten Ewigkeiten hatte ich wieder ein Ziel, einen Plan in meinem Kopf, den ich ausführen wollte, ohne, dass mich jemand oder etwas dazu zwang. Wie schnell war die Intrige von Kyle vergessen, wie viel leichter erschien es mir, meinen Weg alleine zu gehen. Unser Haus war noch hunderte Meter entfernt, doch ich legte mir schon einen genauen Zeitplan fest. Den Flug heute Nachmittag wollte ich unbedingt bekommen. Zuvor musste ich allerdings noch wenigstens meine Schwester einweihen. Und Kyle absagen. 

Beim Gedanken daran wurden meine Beine noch ein Stückchen schwerer. Die kleinen Kieselsteine, die sich in meine Fußsohlen bohrten, spürte ich schon lange nicht mehr, doch der Schauer, der jetzt meinen ganzen Körper überlief, erreichte auch diese Nerven. Obwohl er immer noch die selbe Person war, der arrogante Anzugträger, der weniger Melanin in den Haaren hatte, als ein Albino, bereitete mir Bauchschmerzen. Aber diesmal nicht, weil er mich in eine, nett ausgedrückt, unangenehme Situation brachte, sondern weil ich ihn vermissen würde. Ja ich, Kate O'Sullivan, würde diesen Mistkerl vermissen, samt seinen hundert Krawatten und tausenden hochnäsigen Witzen. Trotz der Umstände, die uns zueinander gebracht hatte, war ich froh, dass ich die andere Seite seiner Fassade sehen durfte. 

Als ich endlich an der Haustür klingelte, verflog dieser Gedanke ganz schnell. Ich sah aus wie ein Schneemann. Rote Nase, blaue Haut, nur der Besen in der Hand fehlte noch. Wenn mich jemand aus der Familie so sah, würden sie einen Anfall kriegen. Aber das taten sie ja auch so, wenn ich nur einen Knopf meiner Bluse nicht geschlossen hatte. Zu meinem Unglück öffnete nicht eines der Hausmädchen die Tür, sondern die Hausherrin höchstpersönlich: meine Großmutter.

"Ach du Schreck." flötete sie sogleich 10 Tonlagen über der Normalhöhe.

"Frische Luft ist gesund, oder?" versuchte ich mich irgendwie aus der Lage zu winden.

"Wo warst du? Weißt du eigentlich wie spät es ist?" langsam beruhigte sich ihre Stimme wieder, doch ihr Gesicht blieb so streng, wie immer. Mit eine kräftigeren Armbewegung, als man ihr zugetraut hätte, zog sie mich ins Innere und schloss leise die Tür. Ich entschied, dass es besser war zu schweigen, bevor sie sich noch mehr aufregte. Der Plan würde ihr sicherlich nicht gefallen. 

"Jetzt wärme dich erst einmal auf und zieh dir etwas an. Ein Wunder, dass deine Beine noch nicht weggefroren sind, bei den Temperaturen. Sag mal, ist das SAND in deinen Schuhen?" 

Hastig gab ich ihr einen eisigen Kuss auf die Wange und hüpfte die Treppe nach oben, bedacht niemanden sonst zu wecken. In meinem Zimmer dachte ich gar nicht daran, mich erst langsam aufzuwärmen. Für die Vorbereitungen war Arbeit auf Hochtouren nötig. In Windeseile legte ich eine Reisetasche in die Mitte meines Zimmers und rannte anschließend kreuz und quer, von einem Schrank zum nächsten Regal und warf die Sachen hinein. Als ich das nötigste zusammenhatte, stopfte ich es in die Tasche und nahm gleichzeitig mein Handy von der Ladestation ab. 3 verpasste Anrufe und eine Nachricht von Kyle.

Geh ans Telefon, wenn ich dich anrufe!

Nett wie eh und je. Ich wählte die Rückruftaste und irgendwo in einem Landhaus weckte jetzt ein klingelndes Handy das ganze Haus. Kichernd redete ich mir ein, dass er es schließlich so wollte, als Kyle abnahm und etwas in den Lautsprecher stöhnte.

"Wie bitte?" antwortete ich gut gelaunt.

"Weißt du, wie spät es ist?!" stöhnte er wieder.

"Sehe ich aus, wie eine Uhr, oder warum fragt mich das jeder?" lachte ich ein wenig schadenfroh. Das Eisbad war sicher nicht die gesündeste Entscheidung, aber man war einfach wach.

"Seh ich dich vielleicht durch das Telefon?" fragte Kyle jetzt genervt.

"Oh. Stimmt, tut mir Leid. Was gibts?"

"Du rufst im Morgengrauen an und fragst was es GIBT? Was ist falsch bei dir?" maulte es vom anderen Ende der Leitung.

"Immerhin hast du versucht, mich zu erreichen. Aber solange du noch so müde bist und nichts kapierst: Ich reise ab. Unser kleiner Deal ist Vergangenheit. Aber danke trotzdem für deine Hilfe, von jemandem wie dir, habe ich das echt nicht erwartet. Schlaf gut."

"Was zum -" hörte ich noch, doch ich hatte schnell aufgelegt, bevor weitere Fragen gestellt wurden.

Ich legte das Telefon zusammen mit einer Leggins, einem dünnen Pullover und meinen Paieiren in einen kleineren Rucksack und schulterte diesen. Dabei fiel mein Blick auf mein Fenster. Einerseits drängte die Zeit, andererseits wusste ich nicht, wann ich wieder hier sein würde. Genau hier stand ich, als der ganze Konflikt anfing. Am Fenster. Die ersten Schneeflocken rieselten auf den Boden und auf Taylor. Irgendwie wirkte er rückblickend fehl am Platz in dieser grauen Welt aus Schnee, Eis und Asphalt. Er gehörte in die Sonne. Und dort würde ich ihn hoffentlich auch finden. Gerade als ich gehen wollte, öffnete sich meine Tür mit einem Krach und meine Schwester trat ein.

"Was hast du vor?" fragte sie lauernd, als ob sie das nicht anhand der Reisetasche erraten könnte.

"Verreisen." antwortete ich knapp. Mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, sie hier allein zu lassen, mit den ganzen Menschen, denen die Krawatte den Blutstrom zum Hirn abdrückte. 

"Wohin?" auch ihre Stimme war heiser, denn sie kannte die Antwort schon, bevor ich sie ihr sagte.

"Venezuela. Caracas. Wo auch immer ich hin muss, um ihn zu finden."

Meine Lippe bebte, als ich auf Linn zu ging und sie fest umarmte. Sie erwiderte die Umarmung und strich mir dann eine Strähne hinter das Ohr, während sie mir fest in die Augen sah.

"Ich wünsche dir so sehr, dass du ihn findest." flüsterte sie. "Ihr gehört zusammen, ganz egal, was die anderen sagen. Und wenn auch nicht sofort, irgendwann wird auch er das merken."

"Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich die beste Schwester auf der ganzen Welt habe?" fragte ich sie den Tränen nahe-

"Nein, das wäre ZU kitschig." lächelte sie jetzt und strich sie über die Wange. "Los jetzt, du verpasst deinen Flug, wenn du hier noch weiter rumlungerst."

Mit diesen Worten schob sie mich aus dem Zimmer und schleuste mich aus dem Haus. Als ich auf unserer Einfahrt stand, hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel. Vielleicht war es das letzte mal.

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