27 Auferstehung

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Die Bürste blieb immer wieder in meinen Haaren stecken, doch ich zog sie unerbittlich durch, bis ich bei den Spitzen angekommen war. Mit einem Haargummi band ich mir einen Zopf. Meine Hände strichen noch einmal von meiner Stirn über den Kopf. Perfekt. Ich zog die Mundwinkel nach oben, griff nach dem Pinsel und strich sanft über meine Wangen. Die silbernen Ohrstecker passten zu dem Amulett, das mir meine Mutter vor Jahren aus Prag mitgebracht hatte.

Leichenmodus aus. Hinein in das Leben.

Meine Tasche schwang ich mir über die Schulter. Die schweren Bücher stießen gegen meine Hüfte, doch ich spürte nichts davon. Noch in den hellen Kuschelsocken schwebte ich die Holztreppe nach unten. Jeder Schritt ließ mich die Fasern des alten Holzes spüren und gleichzeitig die Wärme, die von ihm ausging. Unten setzte ich mich nach langer Zeit das erste mal wieder an den Esstisch, an dem fast die ganze Familie versammelt war. Abgesehen von meiner Mutter, die auf Geschäftsreise war und Linn, die die ganze Nacht nicht zuhause gewesen war, hatten alle an dem langen Tisch Platz genommen. Selbst Tante Silva saß in ihrem silbernen Morgenrock vor ihrem Kaffee und musterte mich scheinbar gleichgültig. Trotz meinem unauffälligen Auftreten musste sie es kommentieren.

"Ach, sieh mal einer an. Miss Kate begibt sich zu uns. Ich hatte schon fast vergessen, dass sie essen kann." trällerte sie.

Auch meine Großmutter sah mit gerunzelter Stirn von ihrer Zeitung auf. Die mit Edelsteinen besetzte Brosche an ihrer Brust glänzte in der Morgensonne genauso wie ihre Haarspange, die ihre Frisur bombenfest sitzen ließen, und ihre Augen.

"Mein Kind, wir haben dich so lange nicht gesehen, dass ich fast vergessen habe, wie du aussiehst."

Sie übertrieb nicht. Ich hatte mich die letzten Tage, nachdem Taylor abgehauen war, in meinem Zimmer verschanzt. Linn hatte mir ab und zu Nahrung gebracht, die ich meist nicht einmal bemerkt hatte. Die Rollläden waren unten geblieben und ich unter meiner Decke. Aus der Tür war ich nur die 2 Meter ins Bad gegangen, um danach wieder in meine Starre zu verfallen. Meine Schwester und Jake hatten vergeblich versucht, mich aus meiner Höhle herauszuholen, aber ich war bewegungslos gewesen. Gestern Nacht war keine einzige Träne mehr aus mir herausgekommen. Ich fühlte mich wie ein gewaltsam ausgewringtes Handtuch. Nach dem man es brutal in die Trockner geschoben hatte und man es im Dunkeln seinem Leid überlassen hatte. Nachdem der letzte Tropfen auf meinem Gesicht verronnen war, machte ich das Licht an. 

"Hier bin ich ja jetzt." Ich konnte und wollte kein Kommentar zu der Woche geben.

Mein Vater musterte mich mit seinem durchdringendem Blick, aber ich hielt ihm stand. Heute nicht. Heute würde ich neu anfangen. Das war zumindest der Plan.

"Nicht besonders pünktlich." bemerkte er jetzt.

Ich sah auf die Uhr, und fuhr wieder von meinem Stuhl hoch. Von meinem Stück Kuchen hatte ich nur zwei Bissen nehmen können und bedauernd sah ich auf meinen Teller. Nach einer Woche völliger Isolation hatte ich meinen Tag-Nacht-Rhythmus völlig verloren. Es war zu spät, um noch fertigzuessen, aber ich schnappte mir einen Apfel aus der vergoldeten Schale, verabschiedete mich von meiner Großmutter mit einem Wangenkuss und huschte immer noch in den Wollsocken zur Tür hinaus. Im Eiltempo zog ich mir Stiefel über, legte mir eine dicke Jacke über die Schulter und warf einen großen Schal über. 

Draußen schlug mir die klirrende Kälte entgegen. Schnell schlüpfte ich in die Ärmel der Jacke, wobei ich fast meinen Apfel verlor und über meine offenen Schnürsenkel stolperte. Was für ein toller Start zurück in das Leben.

Es gab Menschen, die Jahrelang das Haus nicht verließen und überlebten. Vielleicht drehten sie durch oder verloren ihren Verstand, aber sie blieben am Leben. Ich hingegen fühlte mich so, als ob ich in der vergangenen Woche meine ganze Identität verloren hatte. Die Leere in meinem Herzen und in meinem Magen verursachten heftige Bauchschmerzen. Zusätzlich hatte ich Angst, durch die Schultore zu spazieren, als ob nichts gewesen wäre. Als ob Taylor dort nie gewesen wäre.

Kur vor der Treppe blieb ich stehen und hauchte Wasserdampf in die Luft. Die Wintersonne blendete hinter dem Schuldach hervor. Der Himmel war so klar, wie schon lange nicht mehr. So klar, wie mein Entschluss weiterzumachen. An der Stelle, bevor ich Taylor begegnet war. Aber hier war es so viel schwerer als in meinem Bett. Die Realität war immer komplizierter als die Vorstellung. 

Die Tür schwang auf und mit ihr kam ein Schwall Wärme aus dem Inneren des Gebäudes. In der Mitte dieser Wärme stand die Kälte in Person. Kyle Grahams. 

Er fuhr sich durch seine weißblondes Haar und drehte seinen Kopf dabei zu mir.

"Na sieh mal einer an. Von den Toten auferstanden, was?" 

"Sozusagen." murmelte ich.

Langsam schritt er die Treppe herunter. Den Mädchen, die sich um die Stufen herum unterhalten hatten oder auf jemanden warteten, verschlug es den Atem. Er selbst ließ sich nicht beirren. Schließlich war er die Aufmerksamkeit gewohnt, er genoss sie sogar. Im Gegensatz zu mir. Ich versuchte mich so klein wie möglich zu machen, aber es brachte nichts. Kyle kam geradewegs auf mich zu, und hielt mir seinen angewinkelten Arm hin. Irgendwer keuchte auf. Er konnte es auch nicht lassen. An seinem Handgelenk blitze eine teure Uhr unter dem Ärmel seines grauen Pullovers hervor. Mit einem Seufzen ergriff ich seinen Arm und ließ mich von ihm die Treppe hinaufführen. Hinter uns stöhnte jemand.

"Bereit für einen Neuanfang?" fragte er mit seinem strahlend weißen Lächeln.

"Nein." sagte ich.

Trotzdem stieß er die Tür wieder auf, zog mich am Arm in die Schule und ließ mich dann wieder los. Hunderte Schüler drängten auf den Gängen, schlugen ihre Schließfächer zu oder unterhielten sich brüllend von einem Ende des Raumes zum anderen. Überall sah ich bekannte Gesichter. Einige sahen Kyle und mich verwirrt an, andere schienen durch mich hindurchzusehen, als ob ich durchsichtig wäre. Überall Bekanntes, aber Taylor hatte keine Spuren hinterlassen.

Nein, ich war eindeutig nicht bereit, ihn zu vergessen und mein Leben wieder neu zu starten. Absolut nicht. Aber dann segelte ein kleines Blatt, abgerissen von einem Block, zu meinen Füßen. Ich musste mich hinunterbeugen, um zu erkennen, was darauf stand.

"Ich vermisse dich." las ich.

"Ja," dachte ich, "ich dich auch. Jetzt schon."

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Gewidmet an jemanden, der es verdient hat, dass ihr hunderte Bücher gewidmet werden. 














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