Man kann es auch übertreiben.
Das war mein erster Gedanke, als ich Nathaniel vor einem Jahr zum ersten Mal begegnet bin. Schick, mit weißem Hemd und blauer Krawatte, und einem Klemmbrett in der Hand. Man hat ihm direkt angesehen, dass er der Schülersprecher und ein Musterschüler ist. Er erwies sich als sehr freundlich und, im Laufe des Jahres, das ich bereits auf Sweet Amoris bin, auch als ziemlich lustig - wenn auch auf seine eigene Art und Weise. Trotzdem habe ich nicht sonderlich viel mit ihm zutun, wie der Rest meiner Freunde. Von Castiel ganz zu schweigen, der Nathaniel nur erwähnt haben muss, um wieder direkt die Faust zu ballen und laut zu werden. Er hasst ihn, weil er denkt, dass Nathaniel sich vor Jahren an seine Exfreundin Debrah rangemacht hat. Dabei hat Nathaniel das nie getan. Er hat mir erzählt, was damals wirklich abgelaufen ist. Debrah war eine falsche Schlange und, aus meiner eigenen Erfahrung mit ihr vor ein paar Monaten, ist sie das auch noch immer. Sie hat Castiel erzählt, dass Nathaniel sich an sie ran gemacht hat, obwohl es genau andersrum gewesen ist und Castiel hat ihr das ohne wenn und aber geglaubt. Obwohl er mittlerweile weiß, wie Debrah wirklich drauf ist, kam er nie auf den Gedanken, dass Nathaniel vielleicht nie vor hatte, ihm seine Freundin auszuspannen. Da Nathaniel aber auch nicht sonderlich viel an seinem sozialen Umfeld liegt und an dem, was andere von ihm denken, hat er es einfach dabei belassen, dass sie sich ständig in Streitereien verwickeln, die auch hin und wieder zur Ausartung tendieren.
Nathaniel schließt sein Buch und bei dieser Bewegung bemerke ich erst, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt haben muss. Als hätte er es im Gefühl gehabt, klingelt die Schulglocke. Da es der erste Schultag nach den Sommerferien ist, bedeutet diese, dass wir nur noch eine knappe viertel Stunde Zeit haben, um uns für den anstehenden Unterricht vorzubereiten oder in dem Fall: Nachzuschauen, mit wem wir in diesem Schuljahr in einer Klasse sind. Schnell begebe ich mich vom Schulhof aus zum schwarzen Brett, wo die Listen aushängen. Ein Glück hat er sich nicht einmal umgedreht. Das hätte wirklich peinlich werden können.
"Lisa, träumst du etwa schon wieder?"
Ich erschrecke mich und sehe Alexy mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben mir stehen. Er legt einen Arm um mich und geht auf diese Art mit mir weiter. Ehe ich überhaupt antworten kann, erzählt er: "Apropos träumen. Siehst du hier Armin irgendwo? Ich habe ihn geweckt aber er hat gestern Abend mal wieder so unmenschlich lange vor seiner PlayStation gegessen. Bestimmt ist er wieder eingeschlafen und erscheint gar nicht erst zum ersten Schultag. Er treibt es echt zu weit! Findest du nicht auch?" Genervt schüttelt er mit dem Kopf.
"Worüber regst du dich denn schon wieder auf?", platzt Rosalia rein und schließt sich uns an, indem sie ebenfalls einen Arm um mich legt, sodass wir eine Art Dreierkette bilden.
"Armin", antwortet Alexy, "und seine krankhafte -"
"Ja, liebster Zwilling?"
Plötzlich läuft Armin neben uns her und lacht überlegen vor sich hin. Alexy verstummt und sieht ihn prüfend an. Womöglich fragt er sich, ob Armin das die ganze Zeit schon so geplant hatte. Er entfernt sich mit seinem noch immer belustigten Bruder und Rosalia und ich setzen unseren Weg zum schwarzen Brett vor.
"Uuund?", beginnt sie, "Mit wem hoffst du in eine Klasse zu kommen?"
"Auf jeden Fall mit dir und Alexy!", gebe ich wie aus der Pistole geschossen zu ihr zurück.
"Natürlich, unser Dreigestirn darf auf keinen Fall getrennt werden! Uuund sonst?"
"Ich weiß nicht?" Ich sehe sie mit einem fragenden Blick an und bemerke ein schelmisches Grinsen auf ihren Lippen.
"Ich hab dich vorhin gesehen, Süße."
"Wie? Wo denn?"
Da leuchtet es mir wieder ein und meine Augen beginnen sich automatisch vor Schreck zu vergrößern. Rosalia kichert.
Sofort will ich versuchen die Sache klarzustellen, doch Rosalia lässt mir erst gar keine Gelegenheit: "Früher oder später musstest du dich ja in jemanden vergucken! Dass es ausgerechnet Mr. Spießer sein würde, hätte ich zwar nicht gedacht, aber du hast meine vollste Unterstützung!"
"ROSALIA!"
"Was?"
"Ich habe mich doch gar nicht in -", ich unterbreche, als ich Nathaniels Zwillingsschwester Amber nur noch ein paar Meter weiter von mir entfernt am schwarzen Brett sichte. Rosalia folgt meinem Blick und bemerkt das Risiko. Flüsternd fahre ich fort: "Es ist nicht so wie du denkst! Ich habe mich bloß in meinen Gedanken verloren und ihn dabei zufällig angesehen."
"Eher angestarrt", berichtigt sie mich und ich verdrehe lachend die Augen. Ich erhöhe mein Schritttempo und lasse Rosalia ein Stück hinter mir zurück. Angekommen bei den Listen, für die neuen Klassen, quetsche ich mich etwas durch die Menge, was nicht gerade schwer ist aufgrund meiner geringen Körpergröße von 1,53 m. Sofort entdeckte ich meinen Namen auf einer der Listen und suche auf dieser direkt nach Rosalia und Alexy. Ich werde fündig und schreie innerlich vor Freude. Trotzdem muss ich wissen, wer sonst noch bei uns ist und beginne gerade die Liste von oben aus noch einmal durchzugehen, als mich jemand nach hinten zieht und ein Fortfahren verhindert. Ich kriege zwei große Hände vor die Augen gelegt und sehe somit nur noch schwarz. "Hey, was soll das?!"
"Rate, wer ich bin."
Diese Stimme kam mir so verdächtig bekannt vor, dass es nur einer sein konnte: "Kentin!"
Er lacht leise und dreht mich zu sich um, sodass zwischen uns nur noch wenige Zentimeter liegen. Ich runzele meine Stirn ein wenig, um meine Verwirrung über diese Attacke zu verdeutlichen, doch er lächelt mich nur an. Kentin und ich sind die Sandkastenfreunde, wie sie im Buche stehen. Wir haben uns im Kindergarten kennengelernt. Er war damals nicht sonderlich beliebt und wurde von den anderen Jungs oft gehänselt. Ihm wurden die Stifte geklaut, Sandburgen zerstört, die Brille von der Nase abgezogen und versteckt und irgendwann ging es sogar so weit, dass er mitten auf einem Pflastersteinweg geschubst wurde und sich die Knie aufschlug. Mit meinem kindlich, naiven Mut von damals bin ich dann zu ihm gelaufen und habe ihm seine Brille wieder aufgesetzt, der er beim Hinfallen verloren hat. Er war anscheinend so verwundert darüber, dass ihm jemand - und dann auch noch ein Mädchen - geholfen hat, sodass er ebenso schnell wieder aufgehört hat zu weinen, wie er begonnen hat. Von diesem Tag an habe ich mit ihm gespielt und ihn angefangen zu mögen. In der Grundschule sind wir auch in die selbe Klasse gegangen und auf dem Gymnasium ebenfalls. Allerdings war er eine Zeit lang so sehr in mich verknallt, dass er schon etwas nervig geworden ist und mir sogar auf Sweet Amoris gefolgt ist. Trotzdem war und ist er ein guter Freund und seit sein Vater ihn auf die Militärschule geschickt hat, auch vom äußerlichen her ein ganz anderer Typ. Nicht mehr die brünette Brillenschlange mit Topfschnitt, sondern ein muskulöser Junge mit eigenem Stil, den er auch verteidigt, wenn es sein muss. Darunter fällt seine Militärhose, die besonders von Armin und Alexy immer wieder durch den Dreck gezogen wird.
Im Grunde genommen ist er aber immer noch Ken, mein alter, unsicherer Freund.
"Ich wollte dich nicht so erschrecken, tut mir leid", entschuldigt er sich, "aber dein Gesicht hättest du trotzdem sehen müssen!" Er versucht es nachzumachen, um es mir zu beweisen und ich pruste los. "Okay, ich verzeihe dir!"
"Hast du gesehen, dass wir wieder in einer Klasse sind?"
"Es wäre auch komisch, wenn nicht", antworte ich mit einem Grinsen und er tut es mir gleich.
Auf einmal höre ich ein lautes Kreischen und kann mir direkt denken, dass das nur von Rosalia stammen kann. Als ich meinen Blick in die Richtung, aus der das Kreischen kam, ausrichte, erblicke ich sie auch. Glücklich umherspringend krallt sie sich Alexy und sprintet mit ihm zu Kentin und mir. Ehe ich ihr überhaupt zeigen kann, dass ich mich auch freue, fällt sie mir schon um den Hals und quietscht: "Wir haben es geschafft!"
Ich sehe Kentins Gesicht, dem seine Überforderung mit Rosalias Lautstärke deutlich anzuerkennen ist. Alexy aber nutzt diese Gelegenheit, um ihn aufzuklären. Auch wenn er Kentin oft ärgert, bis dieser irgendwann ausrastet, sind sie doch ganz gute Freunde und verbringen, unter anderem mit Armin, viel Zeit miteinander.
Rosalia fasst mit beiden Händen mein Gesicht und ihre Freude ist noch kein bisschen zurück gegangen.
"Lass uns jetzt in unsere neue Klasse gehen! Los, los, los!"
"Aber ich weiß doch noch gar ni -"
Sie packt mich am Handgelenk und zieht mich hinter sich her. Sie blickt zu mir zurück und zwinkert mir zu, mit der Versicherung, dass sie bereits über alles wichtige Bescheid wüsste. Wo sich unser Raum befindet, wer unser Klassenlehrer sein wird und wer sonst noch bei uns ist.
Vor der Tür, zu unserem neuen Klassenraum, angekommen, lässt sich direkt ein wildes Durcheinander von Stimmen vernehmen. Rosalia öffnet die Tür und ich folge ihr. Als ich einen ersten Blick durch den Raum werfe, fällt mir auf, dass unsere Klasse nicht gerade groß ist und es nicht schwer werden könnte, gute Noten durch mündliche Mitarbeit zu erlangen. Doch plötzlich entdecke ich weit außerhalb meines Augenwinkels einen blonden Jungen in der ersten Reihe, am Fenster, sitzen. Sein Blick ist einem Buch zugewandt und ich ahne, wer es ist, ehe er von seinem Buch aufsieht und mir genau in die Augen schaut. Seine honiggelb gefärbten Augen treffen auf meine schokoladenbraunen.
Es ist Nathaniel.
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Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]
FanfictionLisa ist bereits seit einem Jahr auf dem Gymnasium Sweet Amoris. Sie hat sich eingelebt, neue und alte Bekanntschaften gemacht und gibt ihr bestes, gute Noten zu schreiben und somit einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Doch im neuen Schuljahr...