35. Weil ich dich liebe

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Ich verfalle in eine Art Totenstarre. Es fühlt sich an, als könne ich nichts mehr tun, was ich zum Überleben brauche, bis Nathaniel antwortet. Ich bin noch immer fassungslos darüber, was seine Eltern von ihm verlangen. Er hat recht, es hätte alles ein gutes Ende nehmen können.
Hätte.
Francis durchbohrt Nathaniel mit seinem strengen Blick und Adelaide macht es ihm nicht gerade leichter, indem sie es ihrem Ehemann gleich tut.
Ich habe hierbei keinerlei Mitspracherecht. Ich muss schweigen. Es ist schrecklich.
"I-Ich ..." Der blonde Junge scheint so unter Druck zu stehen, dass er nicht viel mehr heraus bekommt. Er sieht in meine Richtung, dann wieder seinem Vater in die Augen.
"Nathaniel, meine Geduld geht langsam zuende!", spricht er vorwurfsvoll seinen eingeschüchterten Sohn an.
Adelaide geht ein paar Schritte auf ihn zu. "Du musst endlich lernen relevantes von irrelevantem unterscheiden zu können!"
"Was ist dir wichtiger? SPRICH!" Für Francis scheint das Maß bereits voll zu sein.
"Liebling, bitte bewahre Ruhe ..."
Mein Blick ist auf Nathaniel ausgerichtet. Ich würde ihn in diesem Augenblick nicht anschreien wollen aber ich will genauso sehr wissen, was er zu sagen hat, wie seine Eltern auch. Dass er noch immer keinen vollständigen Satz rausgebracht hat bereitet mir Magenschmerzen. Nervös beginne ich am unteren Part meines Pullovers rumzuziehen. Plötzlich dreht sich der Blondschopf in meine Richtung um. Seine honiggelben Augen erscheinen trüb. Sein Blick strahlt etwas bemitleidendes aus. Seine Lippen sind aufeinander gepresst. Ich versuche ihm ausdruckslos entgegenzuwirken, kann mir aber erschließen, dass mir das nicht gelingt, da er sein Gesicht wieder von mir abwendet und die Augen schließt. Im selben Moment wird die Tür aufgeknallt.
"Papa!", wirft eine klirrende Stimme in den Raum. Amber ist da.
"Amber, bitte bleibe doch kurz dort, wo du bist."
Die Tochter gehorcht ihrer Mutter stutzig und ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Sie versucht die Situation zu verstehen, bis sie mich entdeckt: "Lisa?! Was machst du denn hier?!"
Francis sieht seinen Sohn weiterhin an. "Deine Schwester ist ein kluges Mädchen."
"Natürlich", lobt Amber sich selbst. "Aber warum genau?"
"Nathaniel, wenn du jetzt nicht sprichst, werde ich einen Antrag gegen deine Mündigkeit in die Gänge leiten und du wirst weiterhin unter meinem Dach wohnen", droht sein Vater, jedoch mit ruhigerer Stimme als zuvor.
"P-Papa ..."
"Genug jetzt!"
Nathaniel schweigt. Er sieht aus dem Fenster, ich auf die Pfütze aus Kaffee, die sich mittlerweile den Weg zu meinem rechten Schuh gebahnt hat. Ich mache einen Schritt zurück, um dieser zu entkommen. Nicht nur dem will ich entfliehen, ich will auch raus aus diesem Raum. Ich kann das nicht länger mitansehen. Ich gehe noch einen Schritt zurück. Wenn Nathaniel sich nicht entscheiden kann, dann muss ich ihm helfen. Einen weiteren Schritt lege ich zurück.
"Wo willst du hin?", fragt mich Amber mit einem seltsam angewiderten Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich wegen der Sauerei auf dem Boden, die ich mit meinem Schuh ein wenig mitziehe.
"Lisa?", fragt Nathaniel, mit nun zu mir gewandtem Körper. "Lisa?!"
Immer mehr Schritte gehe ich zurück, bis ich von der Zimmertür angehalten werde. Alle Blicke sind auf mich gerichtet, als würden sie erwarten, dass ich mein Handeln erkläre. Ich kann aber nichts sagen. Mein Mund will sich einfach nicht öffnen.
"Lass sie gehen, Junge", brummt der Vater.
Einerseits würde ich gerade gerne entgegenrufen, dass Nathaniel mich nicht gehen lassen soll aber andererseits kann ich ihm nicht weiter bei dieser Entscheidung zuschauen. Ich glaube nicht, dass ich ihm nicht wichtig bin. Ich bin ihm wichtig, sonst hätte er längst eine Antwort geliefert. Mir ist aber am aller wichtigsten, dass er aus diesem Haus und vor allem seinem bisherigen Alltag raus kommt.
Ich tue das hier für dich, Nath. Weil ich dich liebe.
Ich drücke die Türklinke hinter mir runter und verlasse in Windeseile den Raum, wenn auch auf wackeligen Beinen. Ich höre Nathaniel noch ein letztes Mal meinen Namen hinter mir her rufen, woraufhin ein lauter Knall der Tür folgt. In rasendem Tempo klappere ich alle Stufen ab, die bis zum Erdgeschoss vorhanden sind. Nicht mal auf den Aufzug wollte ich warten, da es mich sicher dazu gebracht hätte, wieder umzukehren. Beim runterlaufen höre ich das leise Klimpern meines Armbandes, das Nathaniel mir erst vorgestern noch geschenkt hat. Ich muss mich ernsthaft zusammenreißen und einfach weiterlaufen. Ich darf nicht zurück. Entweder oder. Nathaniel muss für mündig erklärt werden, koste es was es wolle.
Noch immer rennend verlasse ich das Krankenhaus. Die Wolken haben sich so stark zusammengezogen, dass es schon beinahe dunkel ist. Die Temperatur ist nicht mehr frisch, sondern schon eher kalt. Ich atme aus, was kurzerhand sichtbar wird. Ist es tatsächlich schon so kalt? Das Wetter muss verrückt spielen.
Ich beginne in meiner Tasche nach meinem Handy zu wühlen. Nachdem ich fündig werde suche ich nach Rosalias Kontakt. Ich wähle sie an und hoffe, dass sie schnell ran geht. Ich spüre bereits wie ich langsam den Tränen nahe bin, die ich bis jetzt so gut unterdrücken konnte.
"Hallo?", ertönt es aus dem Hörer.
"Ro-salia!" Meine Stimme ist mittendrin gebrochen. "Rosa!"
"Süße?! Du klingst schrecklich!"
Ein Kloß breitet sich in meinem Hals aus. Ich beginne zu bereuen, weggerannt zu sein.
"Kannst du zu mir fahren? Ich mache mich jetzt auf den Weg nachhause."
"Klar, ich wechsle in normale Klamotten und dann gehe ich los! Bis gleich!"
In Eile legt sie auf. Ich packe mein Handy wieder weg und drehe mich noch einmal um, um das Krankenhaus ein letztes Mal anzuschauen. War es dumm wegzulaufen? Ich habe nur noch die Mündigkeitserklärung und Nathaniels damit anstehende Freiheit vor Augen gehabt. Sowas tut man doch für jemanden, den man liebt. Oder? Es ihm leichter machen und nicht schwerer. Doch was genau habe ich nun getan? Habe ich ihn verlassen? Zu seinem Besten?
Ist das das Ende?
Unser Ende?

Ich starre die Decke an. Ich kenne ihr Muster bereits auswendig, so oft habe ich sie schon angestarrt. Große Zweifel machen sich weiterhin in mir breit. Im Nachhinein habe ich nicht den blassesten Schimmer mehr darüber, was ich im Krankenhaus getan habe oder was noch viel wichtiger ist: Was in mir vorging. Nichtsdestotrotz hat es sich in dem Augenblick richtig angefühlt. Ich klatsche mir die Hände vor mein Gesicht. Meine impulsiven Handlungen bringen mich irgendwann noch ins Grab. Was wohl in Nathaniel gerade vorgehen mag? Wird er sich überhaupt noch bei mir melden? Oh mein Gott ... Je nachdem wie er es aufgefasst hat ...
"LISA! ROSALIA IST DA!", schreit meine Mutter und holt mich damit zurück ins Geschehen.
Ich höre ein kurzes Gemurmel, bis die ersten Schritte auf der knacksenden Treppe erklingen. Rosalias lange, weißen Haare wehen vor und zurück, als sie den Kopf durch meine Zimmertür steckt. Ich will sie gerade begrüßen, da stürzt sie sich auch schon auf mich und umarmt mich, so fest sie kann.
"R-Rosa!" Als wären dies meine letzten Worte, schließe ich die Augen und genieße ihre Umarmung, sofern es mir überhaupt möglich ist.
"Scheiße", flucht sie und lässt mich los, um mir kurz ins Gesicht zu sehen. "Was ist passiert?"
Sie beginnt ihre Jacke und Schuhe auszuziehen, anschließend legt sie sich neben mich aufs Bett. Jetzt starren wir gemeinsam die Decke an.
"Erzähl schon", fordert sie in ungewohnt sanftem Ton.
"Ich ... Ich habe keine Ahnung ... wo ich anfangen soll aber ... ich ... ich habe keine Ahnung, ob ich jetzt noch mit Nathaniel zusammen bin ..."
Der Kloß in meinem Hals, von vorhin, macht sich wieder bestens bemerkbar. Ich habe das Gefühl jeden Moment zu ersticken, weswegen ich mich räuspere.
Rosalia blickt erschrocken zu mir. "WAS?!"
Ich erzähle ihr von mir, wie ich mit Todesblicken im Krankenhaus empfangen wurde, zu einer Art Maid wurde, die Nathaniels Mutter Kaffee holen sollte, den sie mir aber folglich aus der Hand geschlagen hat und mein Hineinplatzen in die Aufforderung des Vaters, dass Nathaniel sich entscheiden müsse zwischen seiner Mündigkeit und mir und wie Amber dazu gekommen ist, ohne jeglichen Peil, und meine letztendliche Flucht, die sich anfangs als das einzig Richtige angefühlt hat und nun als das Dümmste, was ich in meinem bisherigen Leben je getan habe.
"Du ... Lisa!"
"J-Ja?"
Ich weiche ihrem Blick aus. Ich schäme mich. Ich hätte doch bei Nathaniel bleiben müssen. Wer weiß, vielleicht kriegt er jetzt trotzdem seine Mündigkeit nicht durch ... Bei seinem Vater weiß man schließlich nie.
"Ich ... Du ... Heftig, was du gemacht hast aber noch viel heftiger ist, was von Nathaniel erwartet wird!"
"Nicht wahr ...", seufze ich.
"Ich bin mir allerdings auch nicht sicher, was du nun ausgelöst hast."
"Wie sehen die Optionen aus?"
Sie zählt mithilfe ihrer Finger auf: "Die erste Möglichkeit wäre, dass er das so aufgefasst hat, dass du erkannt hast, dass du einer Beziehung mit ihm nicht gewappnet bist. Zweitens wäre dass du ihm die Entscheidung erleichtert hast, indem du ihn verlas-"
"OH MEIN GOTT!"
Rosalia erschreckt sich mit einem leisen Quieken. Ich werfe mir die Haare vor das Gesicht und hoffe inständig, dass das Zweite es auf keinen Fall ist.
"Dritteres", fährt sie fort, "wäre dass du einfach eine instabile Persönlichkeit bist, die solchen Auseinandersetzungen nicht Stand halten kann und deshalb wortwörtlich vor ihren Problemen wegläuft."
Aus purer Verzweiflung schnappe ich mir eines meiner Kissen, die hinter mir liegen und drücke es mir so fest gegen das Gesicht, in der Hoffnung dass ich keine Luft mehr kriege. Ich bin die größte Idiotin auf Erden!
"So sehe ich das", ergänzt meine beste Freundin bemitleidend.
"Das klingt alles beschissen", klage ich, abgedämpft durch das Kissen.
"Aber ich kann dich trotzdem verstehen." Sie streichelt mir leicht durch mein dunkles Haar. Ich spinkse unter dem Kissen hervor und sehe die Einfühlsamkeit in ihrem Gesicht geschrieben. Sie scheint das nicht einfach so daher zu sagen. Ich murmle zurück: "Danke."
"Du liebst ihn wohl wirklich sehr."
"Offensichtlich ... Ich kann nicht klar denken, wenn es um ihn geht."
"Ich weiß, Süße."
Ich lege das Kissen wieder weg. "Und was soll ich jetzt machen?"
"Abwarten."
"D-Das ist nicht dein Ernst, oder?" Entsetzt sehe ich sie wieder an. Sie lächelt schief. "Worauf überhaupt genau warten?!"
"Dass er das Gespräch mit dir sucht."
"Und wenn er es nicht macht?"
"Er wird es."
"Wie kannst du dir da so sicher sein?", quengle ich kindlich.
"Es ist Nathaniel, von dem wir hier reden. Er verhält sich ernst und wie ein Erwachsener. Das musst du doch am besten wissen!"
"Weiß ich auch", lache ich kurz.
Sie hat recht. Er wird das nicht so stehen lassen und dadurch kann ich auch erfahren, ob es eine neue Gerichtsverhandlung geben wird, die ihm endlich die Mündigkeit erklärt. Dann hätte ich im Endeffekt wohl doch alles richtig gemacht ...
"Hab ein wenig Geduld. Ehe du dich versiehst, hat er dich auch schon aufgesucht."
"PRINZESSIN!", ruft mein Vater die Treppe rauf. Rosalia kichert.
"JA?"
"NOCH MEHR BESUCH FÜR DICH!"

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt