10. Ungewissheit

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Noch komplett neben der Spur, steige ich wackelig aus dem Bus aus. Ein leises Gähnen entwischt mir und ich schlendere auf das Schulgebäude zu. Immerhin regnet es heute nicht, da kann ich ruhig weiter träge sein. Ich sehe, wie Castiel mir entgegen kommt, als ich gerade in die Schule einbiegen will.
"Wie kommt's, dass du mal nicht zu spät bist?", frage ich ihn mit einem kleinen Grinsen.
"Na", grummelt er, "so oft bin ich nun auch wieder nicht zu spät. Werd' bloß nicht frech!" Mit einem schiefen Grinsen läuft er neben mir her und wir gehen gemeinsam weiter. Viel zu reden gibt es nicht, dennoch unterhalten wir uns über den anstehenden Schultag und wie wir heute überhaupt nicht motiviert sein.
"Allerdings kannst du es dir nicht erlauben, unmotiviert zu sein, Kleine."
"Wieso das denn nicht?"
"Dann hat der Spinner von Schülersprecher doch mit Leichtigkeit seine guten Noten ergattert und du stehst noch mehr in seinem Schatten, als so schon."
Ich denke einen Moment über seine Äußerung nach. Er hat Recht damit, dass ich versuchen muss, mit Nathaniel mitzuhalten, damit ich gute Noten bekomme aber andererseits möchte ich auch nur ungern mit ihm konkurrieren - sofern das überhaupt möglich ist.
"Nathaniel und ich sind keine Feinde, Castiel."
Er runzelt die Stirn und festigt seinen Blick auf mir. Kurz vor der Klasse, bleibt er dann schließlich stehen.
"Magst du ihn?"
Ich bin noch ein paar Schritte weiter gegangen, doch bei dieser Frage, mache ich direkt Halt. Ich umklammere einen der Träger meiner Tasche und blicke zu Boden.
"Also ja?", schnauft er.
Ich wende mich zu ihm. Eine kleine Entfernung liegt zwischen uns, doch ich bin noch nah genug an ihm dran, um eine minimale Spiegelung meiner Selbst in seinen grauen Augen wahrzunehmen.
"Warum willst du das wissen?"
Er verschränkt die Arme vor der Brust. Eine rote Strähne fällt ihm dabei ins Gesicht. "Ich verstehe es einfach nicht."
"Selbst wenn, musst du doch auch nicht."
"Ich würde es trotzdem gerne."
Ich seufze leise, wobei ich mir auf einer Seite die Haare hinter das Ohr streiche. Steht mir irgendwie auf der Stirn geschrieben, dass man mich nach Nathaniel fragen sollte und wie ich zu ihm stehe? Meine Laune ist gerade dabei, sich zu verschlechtern und sie war noch nicht mal wirklich gut bis jetzt.
"Castiel", spreche ich in einer etwas genervten Stimmlage, "ich habe deine Frage doch noch nicht mal beantwortet und du ziehst direkt Schlüsse. Außerdem, nur weil du ein Problem mit ihm hast, muss es nicht gleich auch jeder andere haben. Lysander hat doch auch nichts gegen Nathaniel? Warum denn auch. Du hast deinen Grund dafür und das ist in Ordnung aber du solltest dich nicht wundern, warum nicht jeder deine Stellung vertritt."
Damit lasse ich ihn dort stehen und gehe in die Klasse hinein. Dort angekommen fällt mir auf, dass Rosalia mal wieder fehlt. Langsam wird es immer häufiger ...
Als ich mich gerade hinsetzen will, sehe ich, dass auch Melody nicht da ist. Nathaniel sitzt wieder alleine an seinem Tisch. Ich stelle meine Tasche noch nicht ab, da ich darüber unentschlossen bin, ob ich mich zu ihm setzen soll oder einfach an meinem Platz bleibe. Während ich überlege, sehe ich wie Amber an mir vorbei stolziert und mich dabei mustert. Ihr leises, gehässiges Lachen dahinter verrät mir, dass sie mich heute mal wieder ziemlich stillos findet. Nichtsdestotrotz weiß ich immer noch nicht, was ich tun soll. Sowieso ist mir ihre Meinung noch lange nicht so wichtig, wie die ihres Zwillingsbruders. In dem Moment steht es für mich fest: Ich gehe zu ihm!
Mit eher leisen Schritten nähere ich mich ihm an. Durch das Wirrwarr an Gesprächen, das sich im Raum befindet, hätte ich das auch ruhig lassen können aber ich wollte mir so die Sicherheit geben, dass ich kurzerhand auch noch ganz schnell und unbemerkt wieder verschwinden kann. Ich tippe ihn vorsichtig an der Schulter an: "N-Nathaniel?"
Er dreht sich vom Fenster zu mir um. Als er mich sieht, lächelt er mich freundlich an. "Hallo."
"Hey ... Darf ich mich zu dir setzen? Ro -"
"Natürlich ... G-Gerne."
Ich brauchte ihm nicht einmal eine Erklärung zu liefern ... Erleichtert über seine Reaktion, lasse ich mich neben ihm herab sinken und lächle ihn dann ebenfalls an. Er wirkt etwas überrascht von meiner spontanen Aktion. Vermutlich hat sich noch nie jemand, außer Melody, freiwillig neben ihn gesetzt.
Ich hole meinen Collegeblock und einen Stift aus der Tasche raus und lege alles vor mir ab. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sein Blick unauffällig auf mich gerichtet ist.
"Wann präsentieren wir eigentlich unseren Versuch in Chemie?", fragt er mich schon beinahe flüsternd.
"Hmm ... Gute Frage. Nächste Woche? Ich glaube Peggy und Viola wollten zuerst vorstellen und dann Alexys Gruppe. Dann könnten wir das machen?"
Er stimmt mir mit einem kleinen Nicken zu.
Unerwartet platzt in diesem Augenblick Alexy mit seinem Bruder Armin in die Klasse hinein.
"WER HAT LUST AUF PARTY?", ruft Alexy in die Menge und bekommt darauf nur fragende Blicke zurück.
"Armin und ich hatten ja vor einem Monat Geburtstag aber da die meisten von euch da noch im Urlaub gewesen sind, haben wir uns dafür entschieden, unseren Geburtstag dieses Wochenende nachzufeiern!"
"Vor allem haben wir das entschieden", murmelt Armin leise aber noch verständlich genug vor sich hin. Alexy verpasst ihm auf diese Aussage einen Schlag auf den Hinterkopf, worauf Armin anfängt zu lachen.
"Ich habe hier Einladungen für euch. Wenn ihr nicht kommen könnt, dann müsst ihr euer anderes Treffen oder eure anderen Pflichten absagen und dann kommt ihr!" Alexy beginnt mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Einladungen auszuteilen. Da ich die ganze Zeit über Alexy zugehört habe, habe ich gar nicht mitbekommen, wie mein Sitznachbar das Geschichtsbuch ausgepackt hat und darin rumblättert. Ich schätze er hat Alexy nicht zugehört, da er bei sowas direkt davon ausgeht, dass es nicht an ihn gerichtet ist. Er streift sich einmal mit der Hand durch seine blonden Haare und beginnt sich einer Seite zu widmen und sie zu lesen.
"Na, ihr beiden", begrüßt uns Alexy fröhlich. Nathaniel wendet seinen Blick zu ihm. Ein wenig Verwunderung steht ihm im Gesicht geschrieben. Alexy hält uns zwei geschlossene, orange gefärbte Briefumschläge hin. "Ihr kommt auch, ohne wenn und aber!" Ich nehme seine Einladung entgegen, während Nathaniel noch einen Augenblick zögert. Unauffällig zwinkert Alexy mir grinsend zu und lächelt dann Nathaniel an. "Nun nimm schon!"
Er blickt von der Einladung in Alexys Gesicht. Schließlich nimmt er die Einladung mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und Alexy verschwindet wieder.
Ich muss direkt nachfragen: "Kommst du?"
Nathaniel sieht mich an und dann wieder auf den Briefumschlag, den er noch immer in der Hand hält. "Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein."
"Das wird bestimmt lustig!", versuche ich ihn dazu zu ermuntern. Ich möchte ihm nicht direkt sagen, dass ich gerade innerlich bete, dass er auch kommt, da dies die perfekte Gelegenheit ist, mit ihm ein wenig Zeit zu verbringen.
"Ich werde mal schauen ..."
Diese Antwort ist mir zu unsicher. Ich glaube, er nimmt die Einladung nicht wirklich ernst. Ich möchte, dass er kommt ... Den Grund dafür kann ich ja für mich behalten aber das kann ich ihm sagen.
Vorsichtig lege ich meine Hand auf seinem Unterarm ab. Ich spüre seine Körperwärme durch den relativ dünnen Stoff seines Hemdes. Seinen Blick, den er bereits wieder dem Buch zugewendet hatte, richtet er wieder auf mich aus und wir schauen uns in die Augen. Mein Herz beginnt augenblicklich schneller zu schlagen. Mir fehlen plötzlich die Worte und meine Körpertemperatur steigt an. Ein Klos breitet sich in meinem Hals aus. Er löst sich dennoch nicht aus dem Augenkontakt, sondern hält ihm stand, obwohl ich nichts sage.
Ich sammle mich und beginne, den Umständen entsprechend, direkt zu stottern: "I-Ich würde mich freuen, wenn du ... Wenn du kommst."
Im ersten Moment bin ich stolz auf mich, das ausgesprochen zu haben, da es vielleicht etwas bewirkt bei ihm, doch im Nächsten empfinde ich mich als unglaublich peinlich, aufgrund meines Gestotters, und würde am liebsten im Erdboden versinken. Nathaniel presst nachdenklich seine Lippen zusammen, wobei sich seine Wangen leicht rot färben. Er sagt nichts darauf und lässt mich somit weiterhin in der Ungewissheit verweilen, ob er zu Alexys und Armins Party erscheinen wird oder nicht.

"Wie hat dir meine kleine Geste gefallen?" Alexy umarmt mich von hinten, als ich gerade in meine letzte Birne hinein beiße und mich aus der Schule raus begebe. Mit vollem Mund, zucke ich nur mit den Schultern.
"Wie, was soll das denn heißen?"
"Das soll heißen, dass ich dir dankbar dafür bin, dass du Nathaniel auch eingeladen hast aber ich vermute, dass er nicht kommen wird."
"Moment!" Er stellt sich vor mich hin, um mich anzuhalten. "Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Er MUSS kommen! Ich lasse euch allen schließlich gar keine andere Wahl!"
"Ich weiß aber ... Naja, ich hab ihm gesagt, dass ich mich darüber freuen würde, wenn er kommt und darauf hat er nichts geantwortet."
Bei der Erinnerung daran, werde ich wieder ganz unsicher. Vielleicht hätte ich doch besser nichts sagen sollen und einfach still hoffen. Nicht, dass ich ihn jetzt verschreckt habe oder etwas dergleichen ... Ich will nicht aufdringlich rüberkommen.
Ich streiche mir leicht über den Unterarm und schaue Alexy an, welcher mir beide Hände auf die Schultern gelegt hat.
"Das ist doch super, dass du ihm das gesagt hast! Bestimmt ist er einfach nur schüchtern und hat deshalb nichts gesagt", versucht er mich aufzumuntern.
"Ich denke eher, dass er einfach nicht so der Mensch ist, der sich gerne unter Leute mischt und wollte mich aus Höflichkeit nicht komplett vor den Kopf stoßen, indem er mir klipp und klar sagt, dass er nicht kommen wird. Freude meinerseits hin oder her."
Enttäuscht wegen der Vorstellung, dass es tatsächlich so gewesen ist, schaue ich betroffen zur Seite. So sehr ich mich für ihn interessiere, ist sein Wesen auch nicht gerade das einfachste.
"Hey ..." Alexy legt sanft eine Hand an meine Wange und dreht mein Gesicht wieder zu ihm. Ich bin ein ganz schönes Gefühlsbündel, weswegen ich sofort anfangen könnte zu weinen, doch mein bester Freund sieht schon besorgt genug aus.
"Soll ich nochmal mit ihm reden?", schlägt er vor. Ich schüttle mit dem Kopf. "Nein, ich möchte nicht, dass auf ihn eingeredet wird. Er soll schließlich selbst entscheiden, ob er kommt oder nicht und nicht dazu gedrängt werden. Ich werde einfach abwarten. Er weiß ja jetzt auch, wie ich dazu stehe."
Alexy nimmt mich in seine Arme. Sanft streicht er mir über den Kopf und durch mein Haar. Er gibt mir einen kleinen Kuss auf die Stirn und versichert mir: "Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen!"

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt