15. Dornröschen (Nathaniels POV)

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Zu überprüfen, ob zwei Vektoren linear voneinander abhängig sind, ist gar nicht mal so leicht ... Aber ich muss es verstehen, damit ich Lisa helfen kann, wenn sie es nicht versteht. Schließlich zählt sie auf mich und ich möchte auch nicht, dass sie es bereut, mich um Hilfe gebeten zu haben oder sieht, dass ich gar keine so große Hilfe bin, wie sie eigentlich angenommen hat. Irgendwie ist es schon komisch, wie wir zu Beginn, als sie neu auf der Schule war, nicht wirklich viel miteinander zutun hatten und mittlerweile kommt es mir so vor, als hätten wir ein gutes Verhältnis zueinander. Zumindest hat sie mich umarmt, als ich sie, nach meiner etwas stockenden Entschuldigung, nachhause gebracht habe. Ich frage mich, wie lange sie sonst noch auf mich sauer gewesen wäre, wenn ich es nicht getan hätte. Aber, wenn ich nochmal genauer darüber nachdenke, will ich es gar nicht wissen. Ich möchte, dass sie mich mag, so wie ich sie mag ... Wie sehr mag ich sie denn überhaupt? Das ist gerade vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, dennoch frage ich mich das. Mag ich sie so, wie ich Melody mag? Wie eine gute Freundin? Melody kann manchmal ein wenig aufdringlich sein aber den Grund weiß ich ja auch dafür. An sich ist sie ein nettes Mädchen, das sehr organisiert und stets hilfsbereit ist. Sie ist mir eine gute Unterstützung in dem ganzen Unterlagenkram, den ich als Schülersprecher erledigen muss aber wichtig ... Wichtig ist sie mir nicht unbedingt. Als sie mir ihre Liebe gestanden hat, war es mir wichtig, sie nicht zu verletzen, jedoch ich hätte ihr auch nicht hinterher getrauert, wenn wir nicht mehr befreundet gewesen wären. Es wäre schade gewesen aber auch kein Weltuntergang. Ich mag Melody aber sie bedeutet mir nicht viel ... Irgendwie. Bei Lisa habe ich es aber innerlich kaum ausgehalten, als ich sie begrüßt habe und sie mich ignoriert hat. Ich wollte mich sowieso schon bei ihr entschuldigen, doch in dem Moment habe ich gemerkt, dass ich es muss. Ich wollte nicht, dass sie nicht mehr mit mir spricht. Also, ist sie mir wichtig? Mag ich sie mehr, als Melody? Lisa ist ebenfalls ein nettes Mädchen aber auch fleißig, ehrgeizig, intelligent, lustig, ein wenig tollpatschig aber das ist auch irgendwie süß ... Und ... Und sie ist ziemlich hübsch. Sehr hübsch sogar, wenn ich nochmal so darüber nachdenke.
Auf einmal wird mir ganz warm im Gesicht. Ich muss gerade rot werden. Schnell versuche ich, mein Gesicht irgendwie vor Lisa zu verstecken. Sie soll nicht sehen, wie ich völlig aus dem Nichts rot werde ...
Als meine Körpertemperatur endlich wieder sinkt, schaue ich rüber zu ihr, um zu sehen, wie sie vorankommt. Anstatt ein rechnendes oder irritiertes Mädchen dabei aufzufinden, sehe ich, wie sie auf ihrem abgestützten Arm, die Augen geschlossen hat. Sie sieht so friedlich aus ... Ich habe sie ein paar mal Gähnen hören. Sie scheint ganz schön müde gewesen zu sein, um in dieser Position einschlafen zu können. Ihre dunkelbraunen Haarspitzen liegen auf dem Tisch. Ich weiß nicht, ob ich sie wecken soll oder es lieber lasse. Immerhin wollte sie, dass ich ihr was beibringe ... Nein! Ich kann sie nicht wecken. Sie ist wohl einfach erschöpft und braucht nun ein paar Minuten Pause. Eigentlich sollte ich nun meinem Mathebuch wieder volle Aufmerksamkeit schenken, doch ich kann nicht. Ich kann meine Augen nicht von Lisa lösen. Ich weiß nicht wieso aber ich kann nicht. Ihre Haut ist so makellos, rein. Sie sieht weich aus. Genau wie ihre Lippen ... Sie sind voll aber auch nicht zu voll.
Gerade, wie ich so ansehe, merke ich, dass ich kein anderes Mädchen hübscher finde, als sie. Ich bin so abgelenkt durch diesen Anblick. Es ist schon komisch ... Das hatte ich noch nie.
Sie erinnert mich gerade an Dornröschen. Eine Prinzessin im Tiefschlaf.
Ich muss lächeln.
Auf einmal sehe ich, wie sie mit ihrem Gesicht langsam von ihrer Hand abrutscht. Schnell, aber leise, nehme ich vorsichtig ihren Arm mit der einen Hand und lege die Andere sanft unter ihr Kinn. Ich führe ihren Arm Richtung Tisch, auf dem ich ihn dann ablege. Ihr Gesicht halte ich noch immer fest. Es sieht so aus, als ... als ... als würde sie mich küssen wollen ... Im selben Augenblick, als ich sie so sehe, verspüre ich den Drang, sie zu küssen. So weich wie ihre Lippen aussehen ... Verdammt, was denke ich da nur?!
Achtsam gehe ich mit meiner Hand, die ihr Kinn stützt, runter, bis sie sich schließlich mit knapp der Hälfte ihres Oberkörpers auf den Tisch gelegt hat. Eine Strähne fällt ihr dabei ins Haar. Diese scheint sie zu kitzeln, da sie kurz mit ihrer Nase zuckt. Ich streiche sie ihr sanft aus dem Gesicht. Ich kann nicht anders, als ganz behutsam mit ihr umzugehen. Sie sieht so zerbrechlich aus. Sie ist jemand, den man beschützen will. Deswegen war ich um so froher, als ich sie auffangen konnte, wo sie beinahe mit einer, nicht gerade ungefährlichen, Chemikalie in ihren Armen hingefallen wäre. Sie hat auch noch halb meinen Namen gerufen ... Daran erinnere ich mich.
Genug aber auch jetzt!
Ich wollte für Mathe lernen ...
Jetzt bin ich nur verwirrt.
Ich sollte am besten meine Gedanken neu sortieren und mich wieder zurück an die Aufgabe begeben.
Einen kurzen Blick zurück, zu Lisa, lasse ich noch zu. Wenn sie nicht bald wieder aufwacht, werde ich sie wohl doch wecken müssen. Doch so, wie ich es gerade am liebsten tun würde, kann ich es nicht machen ...

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt