Meine Hände und Beine zittern, als ich zurück zu Rosalia und Alexy gehe. Innerhalb von Sekunden male ich mir die wildesten Dinge aus, die passiert sein könnten. Wurde Nathaniel mit zu vielen Fragen, im Gerichtssaal, belastet und er konnte dem Druck nicht mehr Stand halten, sodass es zu physischen Auswirkungen kam? Wurde er auf dem Nachhauseweg angegriffen oder ist ein Unfall passiert? Oder hat es überhaupt nicht ihn getroffen, sondern ein Familienmitglied? Verdammt, warum konnte er mir nicht wenigstens beantworten, wie es ihm geht?!
Ich bleibe mitten im Raum stehen. Meine beiden besten Freunde erkennen sofort, dass etwas nicht stimmt.
"Lisalein ... ?", fragt Alexy zögernd nach.
"Ihr ..."
Mehr bekomme ich nicht raus. Dabei muss ich es noch bis zum Krankenhaus schaffen, ohne verrückt zu werden oder zusammenzubrechen.
Rosalia steht besorgt auf und legt ihre Hände an meine erhitzten Wangen. Es fühlt sich an als hätte ich Fieber und ihre Körperwärme, die sie nun mit mir teilt, macht es nicht besser.
"Was hast du?"
"Ihr beiden müsst jetzt leider gehen, tut mir leid ..."
Alexy verlässt ebenfalls das Sofa, um mir näher zu kommen.
"Nathaniel hat angerufen", erkläre ich, "und ich soll zum Krankenhaus kommen."
Schockierung breitet sich in ihren Gesichtern aus, als ich zuende gesprochen habe.
"Oh mein Gott, was ist passiert?", hakt Rosalia nach.
"Wüsste ich auch gerne ... Jedenfalls mache ich mich jetzt auf den Weg dorthin, um das herauszufinden."
"Klar, kein Problem, Süße."
Sie macht sich auf den Weg zur Garderobe, während Alexy mich fest in seine Arme schließt.
"Versuch etwas runterzukommen, Kleine."
Fürsorglich drückt er mir einen kleinen Kuss auf die Stirn, ehe auch er seine Jacke holt.
Er hat recht. Ich muss mich zusammenreißen!
Ich schreibe meinen Eltern eine SMS, um ihnen Bescheid zu geben, und schnappe mir nur noch vorsichtshalber einen Schirm. Ich habe keine Nerven nach oben zu gehen, um meine Jacke aus dem Zimmer zu holen.
"Wir gehen noch ein Stück mit dir", bietet Alexy an und ich stimme nickend zu.Nach fünf Minuten Warterei auf den Bus und zehn Minuten Fahrt bin ich endlich angekommen. Ich befinde mich in der Stadtmitte und entdecke bereits das große, hell aufleuchtende, rote Kreuz, das sich über dem Eingang des Krankenhauses befindet. In eilendem Schritt und mit scheinbar hohem Blutdruck, da mein Herz rast, gehe ich auf das eindrucksvolle Gebäude zu. Bisher habe ich es nur von Außen gesehen, was mir auch voll und ganz gereicht hat.
Ich halte die Augen nach Nathaniel offen, doch er ist weit und breit nicht zu sehen. Wie soll ich ihn nur finden, wenn er nicht gerade in der Eingangshalle wartet? Warum muss sein Handy ausgerechnet jetzt leer sein?! Ich glaube ich werde wahnsinnig!
Die Türen des Krankenhauses öffnen sich automatisch. So ästhetisch dieses Bauwerk auch von außen aussehen mag, innen wirkt es viel mehr erdrückend und düster auf mich. Gräulich. Beängstigend. Überhaupt nicht beruhigend.
Ich sehe mich um. Ein paar Leute sitzen auf unbequem aussehenden Stühlen, dazwischen zwei Snack- und Getränkeautomaten und vor ihnen ein großer Tisch mit einer Vielzahl von Zeitschriften aber nirgendwo entdecke ich Nathaniel oder Amber oder seine Eltern oder überhaupt eine Person, die ich kenne. Ich gehe weiter umher, damit ich nicht so verloren wirke, wie ich in Wirklichkeit bin.
Ob mir die Dame an der Information weiterhelfen kann? Mit gräulichen Haaren, die zu einem strengen Dutt gebunden sind, ersten Falten im Gesicht und auffällig geschminkten Lippen wirkt sie alles andere als freundlich. Mir bleibt jedoch nichts anderes übrig, wenn ich meinen Freund finden will.
Mit langsamen Schritten gehe ich auf sie zu. Nachdem sie erkennt, dass ich zu ihr will, festigt sich ihr Blick auf mir. Ich versuche ein möglichst freundliches Lächeln aufzusetzen, obwohl mir gerade überhaupt nicht danach zumute ist.
"Guten Abend", begrüße ich sie höflich.
"Guten Abend, was kann ich für Sie tun?"
Auf mein Lächeln bekomme ich keins zurück.
"Ich suche meinen Freund ..."
"Schön. Und weiter?"
Na klasse ... Sehr liebenswürdig.
"Er hei-"
"Lisa!", höre ich plötzlich seine Stimme hinter mir erklingen.
Schlagartig drehe ich mich um. Da steht er. Unversehrt, genauso wie er heute Mittag mein Haus verlassen hat. Meine Gefühle überkommen mich und ich laufe direkt auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Er kann sich nur noch knapp halten, umarmt mich aber ohne zu zögern zurück.
"Du Idiot", nuschle ich mit gebrochener Stimme in seinen Pullover, "du hättest mir wenigstens sagen können, dass es dir gut geht! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht ..."
Ich höre wie sein Herz schneller schlägt, während er seinen Griff um mich verfestigt.
"Tut mir leid. Du hast vollkommen Recht", antwortet er beruhigend.
Gerade noch schaffe ich es, dass mir keine Träne, vor Erleichterung, entwischt. Ich löse mich aus der Umarmung, um ihm in die Augen sehen zu können.
"Was ist passiert, warum bist du hier?", will ich nun endlich wissen.
"Komm mit, ich erkläre es dir auf dem Weg."
"Auf dem Weg wohin?"
"Zum Operationssaal."
Er legt eine Hand auf meinem unteren Rücken ab und geht so mit mir weiter. Ich lasse mich ohne jeglichen Protest führen. Für einen Moment schweigt er, statt mich aufzuklären. Besorgt sehe ich an und stoße dabei auf einen leeren Gesichtsausdruck.
"Bei der Gerichtsverhandlung", erklärt er, "lief zunächst alles reibungslos. Es wurde kurz geschildert, worum es geht und ich sowie meine Eltern wurden in den Gerichtssaal einberufen. Amber hat draußen gewartet. Ich musste ein paar Fragen beantworten, damit der Richter sich ein Urteil darüber machen kann, inwiefern ich tatsächlich in der Lage dazu bin, für mich allein zu sorgen und selbstständig Entscheidungen zu treffen. Ich schien ihn überzeugt zu haben, denn schlussendlich lag es nur noch an meinen Eltern, die Mündigkeit für gültig erklären zu lassen. In dem Moment hat mein Vater aber ein klägliches Geräusch von sich gegeben und er sagte, dass ihm schwindelig sei. Er fragte ob er kurz raus dürfte und der Richter gestattete ihm dies. Als er nach gut fünf Minuten noch immer nicht zurückkam, habe ich gefragt, ob ich nach ihm sehen dürfte, doch so weit kam es erst gar nicht, denn Amber kam gleichzeitig panisch in den Saal gestürmt und schrie, dass unser Vater umgekippt sei. Ohne zu zögern sind meine Mutter und ich nach draußen gelaufen und wir sahen wie er sich auf dem Boden krümmte und seinen Hinterkopf festhielt. Er klagte über Sehschwierigkeiten und unsagbare Kopfschmerzen, während Amber den Notruf wählte. Es war schrecklich, denn wir konnten ihm in diesem Moment nicht weiter helfen, als bei ihm zu sein und aufzupassen, dass er sich nicht irgendwie weiter weh tut."
Während seinem letzten Satz verstummte seine Stimme von Wort zu Wort ein wenig. Er holt Luft, um vermutlich weiterzuerzählen, doch stattdessen kneift er die Augen zu und zieht die Augenbrauen so zusammen, dass seine Stirn beginnt sich zu runzeln. Ich halte ihn vorsichtshalber an, indem ich mich vor ihn stelle. Er öffnet die Augen wieder, richtet sie jedoch nicht auf mich aus sondern sieht zur Seite.
Kaum vernehmbar flucht er: "Das ist alles meine Schuld ..."
Entsetzt über das, was ich gerade gehört habe, packe ich sein Gesicht und lenke es zu mir, sodass er gezwungen ist, mich anzusehen.
"Das hast du gerade nicht wirklich gesagt, Nathaniel!", zische ich.
"Hätte ich nicht die Mündigkeit gefordert, wäre das alles sicher nie passiert! Jetzt liegt mein Vater da und wird operiert, nachdem er einen Schlaganfall hatte!"
Ich bin kurz davor ihn anzuschreien, ob er sie noch alle hat, doch er knickt vor meinen Augen ein. Als könnten seine Beine ihn nicht länger tragen, gleitet er zu Boden. Ich kann ihn nicht halten, so gerne ich das auch würde, und folge ihm, bis wir schließlich in der Hocke bleiben und er seine Hände verzweifelt an den Kopf drückt. Wieder kneift er die Augen zu und seine Zähne geben ein knirschendes Geräusch von sich. Ich lege meine Hände sowie meine Stirn an seine, um ihm Nähe zu geben. Es dauert nicht lange, da beginnt er zu schluchzen. Es ist ein Moment der Schwäche, in dem er sich mir offenbart. Tränen beginnen seine Wangen hinunter zu kullern. Ich muss mich am Riemen reißen, es ihm nicht gleich zu tun, da es mir das Herz bricht, ihn so zu sehen. Er muss von wirklich starken Schuldgefühlen geplagt sein, wobei ihm in Wirklichkeit nichts vorzuwerfen ist. Auf die Frage 'Warum?' erschien diesem eigentlich klugen Kopf trotzdem als die einleuchtendste Antwort, dass er der Grund für den derzeitigen Zustand seines Vaters ist.
Ich halte es für das Beste erstmal nichts zu sagen, sondern ihm bloß über seine Handrücken zu streicheln und ein paar Küsse auf die Stirn zu geben.
Du musst das nicht alleine durchstehen, Nathaniel. Ich bin bei dir.
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Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]
FanfictionLisa ist bereits seit einem Jahr auf dem Gymnasium Sweet Amoris. Sie hat sich eingelebt, neue und alte Bekanntschaften gemacht und gibt ihr bestes, gute Noten zu schreiben und somit einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Doch im neuen Schuljahr...