6. Seltsame Spannungen

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Ich mache mich auf den Weg in Richtung Mensa. Wenn ich gerade nochmal so darüber nachdenke ... Vielleicht war es nicht mal so schlecht, dass Melody aufgekreuzt ist und mein kleines Geständnis unterbrochen hat. Vielleicht will das Schicksal oder Gott gar nicht, dass Nathaniel und ich uns besser kennenlernen oder sogar Freunde werden.
Ein Blubbern macht sich in meinem Bauch breit. Ich hätte den Kakao wirklich nicht so schnell trinken sollen aber einfach so stehen lassen, wollte ich ihn auch nicht. Genauso wenig wie Nathaniel selbst aber aus dem Moment heraus habe ich mich dazu entschieden, abzuhauen. Kann sein, dass das nicht meine beste Idee war aber ich denke, dass ihm das nicht sonderlich viel ausgemacht hat. Wenn dann womöglich eher die Tatsache, dass er keine Antwort auf seine Frage erhalten hat.
Als ich die Mensa betrete, sehe ich Kentin und Viola an einem der Tische zusammen sitzen. Viola ist gerade dabei etwas zu zeichnen und Kentin starrt gelangweilt aus dem Fenster. Sieht ganz danach aus, als hätte er Alexy und Armin nicht gefunden. Ich gehe zur Theke, um mir ein Brötchen zu bestellen. Da keines mehr von denen vorhanden ist, die ich mag, bekomme ich extra ein neues gemacht. Ich bedanke mich möglichst herzlich bei der Frau, die hier arbeitet, damit sie auch zu spüren bekommt, dass ich das nicht als selbstverständlich ansehe.
Während ich warte, bemerke ich auf einmal, wie sich mir Schritte nähern.
"So sehen wir uns wieder", begrüßt mich Kentin mit einem lieblichen aber breiten Lächeln, das mir gar nicht entgehen kann, als ich mich in seine Richtung umdrehe.
"Ja. Wo sind die Zwillinge?"
Er zuckt mit den Schultern. "Wüsste ich auch gerne!"
In dem Moment kommt gerade mein belegtes Brötchen bei mir an. Ich bedanke mich noch einmal bei der Frau und schlage Kentin vor, mit mir nach draußen zu gehen. Das Wetter hat sich gebessert und das möchte ich nutzen. Ohne jegliche, weitere Überlegung ist er dabei und ruft noch schnell Viola zu, dass er nun geht. Diese scheint aber so einen Kreativitätsfluss gerade zu haben, dass sie das gar nicht mitbekommt und sich ihrer Zeichnung weiterhin völlig hingibt.
Kentin und ich laufen auf dem Schulhof entlang.
"Du?", fragt er vorsichtig.
"Ja?"
"Was hast du eigentlich so in den Ferien gemacht? Wir haben zwar ein paar mal miteinander geschrieben aber ansonsten haben wir uns nicht mal zufällig im Park getroffen, wie sonst hin und wieder."
Ich will gerade in mein Brötchen beißen, da halte ich kurz davor an und überlege, ob ich es nicht später essen will. Jetzt wo Kentin bei mir ist, sollte ich auch mit ihm reden und das möglichst ohne vollen Mund. Ich packe es wieder in die Tüte ein, die mir die Frau aus der Mensa mitgegeben hat und verstaue es in meiner Tasche. Er hat jede Bewegung von mir mitverfolgt und gerät ins stottern: "A-Aber was machst du da? Du ... Du musst doch nicht wegen mir aufhören zu essen. Es ist doch noch so frisch! Iss es, solange es noch in dem Zustand ist."
"Ach, Kentin", schmunzele ich, "mach dir keine Sorgen, ich esse es nachher noch und bis dahin wird es nicht steinhart sein. Ich möchte mich jetzt lieber mit dir unterhalten!"
Seine Pupillen weiten sich. Er sieht mich für einige Sekunden nur an, ehe er sich dann verlegen durch die Haare streicht und anfängt zu lächeln. Ich fasse es als Freude über das, was ich gerade gesagt habe, auf und beginne ihm von meinen Ferien zu erzählen: "Ich war für zwei Wochen in England. Nicht gerade das wärmste Ziel aber es war sehr schön dort! Ich liebe die Briten und vor allem ihren Akzent. Meine Eltern kommen nicht so ganz damit klar, wenn diese gerade erst loslegen zu sprechen und ich muss es ihnen dann, wie ihre persönliche Dolmetscherin, übersetzen aber dadurch verbessere ich mich auch weiter in Englisch. Ich habe sogar angefangen zu überlegen, dort später mal hinzuziehen ... Ansonsten habe ich nicht sonderlich viel gemacht. Ich habe viele Serien geschaut und mich mit Freundinnen getroffen. Nichts weiteres erwähnenswertes."
Ich setze mich auf eine der Bänke des Schulhofs und er setzt sich zu meiner Rechten hin, nach wie vor aufmerksam und bereit, mehr von mir zu hören. Doch da kommt nicht mehr und er grinst mich an.
"Hört sich gut an! Ich finde England auch nicht schlecht. Man kann dort super surfen!"
"Ja, ja", lache ich und stupse ihm in die Seite, "du und dein Sport."
"Du kennst mich!" Er stimmt in mein Lachen mit ein.
Mit Kentin zu lachen hat immer was lockeres und wohltuendes. Es ist so vertraut. Ich kann mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Zwar ist Alexy mein bester Freund aber Kentin hängt kaum ein Stück hinterher. Ich hoffe das wird sich nie ändern. Ich schenke ihm ein kleines Lächeln und er gibt mir seins zurück.
Nun kommt meine Gegenfrage: "Und was hast du so getrieben?"
"Hmm ... Ich war joggen, Fahrrad fahren, Gewichte stemmen, joggen, schwimmen, Liegestütze machen, noch mehr joggen ... Hab ich schon erzählt, dass ich joggen gewesen bin?"
Scheinbar belustigt über seinen eigenen Witz, lacht er mich leicht an und ich versichere ihm, dass ich verstanden habe, dass er sehr viel Sport getrieben hat.
"Aber ..."
Sein Grinsen verschwindet langsam aus seinem Gesicht und er sieht zu Boden. Er beginnt mich zu verunsichern.
"Aber?", frage ich nach.
"Aber ... Ich habe dich auch vermisst, zwischen all den Sporteinheiten."
Damit habe ich nun nicht gerechnet. Ich schaue ihn an, in der Hoffnung, dass er seinen Blick ebenfalls zu mir aufrichtet. Nach einer gefühlten Ewigkeit an Warterei, tut er dies auch und wir verweilen in diesem Augenkontakt. Auch wenn das unerwartet gekommen ist und das auch noch von Kentin, lässt es mein Herz schneller schlagen. Das könnte aber auch daher kommen, dass mich dieser Satz unter Druck setzt. Habe ich Kentin auch vermisst? Ich bin mir nicht sicher ... Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht daran, überhaupt jemanden wirklich vermisst zu haben. Die meisten habe ich ja getroffen, wenn ich sie sehen wollte. Auf einmal spüre ich, wie Kentin seine Hand auf meine legt. Sofort muss ich dort hin blicken, um auch sicher zu gehen, dass er das wirklich tut. Er tut es, ich bilde mir das nicht ein. Mein Herz bahnt sich mit seinen Schlägen in Richtung Hals hinauf und ich muss mich anstrengen, nicht zu vergessen zu atmen. Nervös schaue ich ihn wieder an. Seine Wangen haben sich mittlerweile errötet. Ich sehe, wie er kräftigt schluckt und bin darauf eingestellt, dass er mir etwas sagen will, doch es kommt nichts. Aus irgendeinem Grund kann ich meine Hand auch gerade nicht wegziehen. Überraschend erkenne ich, wie sein Gesicht näher auf meins zukommt und seine Augen beginnen, sich zu schließen. Panik beginnt sich in mir auszubreiten und sie wird noch größer, als ich plötzlich eine mir bekannte Silhouette über seiner Schulter hinaus erkenne. Die Person kommt näher und da nutze ich die Chance: "Nathaniel?"
Verwirrt schaut er mich und den schreckhaft zusammengezuckten Kentin an. Nathaniel presst seine Lippen aufeinander und entschuldigt sich: "Ich wollte euch nicht stören aber ... Lisa, ich habe dich gesucht."
Aus dem Augenwinkel bemerke ich Kentins sich runzelnde Stirn.
"Warum?"
"Ich ... Ich war schneller in der Schülervertretung fertig als gedacht und da da-" Er bricht ab. Er mustert Kentin, der ihn förmlich anstarrt und damit scheinbar unruhig werden lässt. "Egal."
"Wa -", stammle ich, doch weiter komme ich nicht. Er hat sich bereits wieder umgedreht und auf den Weg zurück ins Schulgebäude gemacht. Überfordert mit der ganzen Situation, schaue ich ihm hinterher. Kentin wendet sich wieder zu mir. Ich weiß gerade nichts zu sagen oder zu denken. Ich bin einfach nur noch verwirrt.
"Ähm ...", nuschelt er. Um seinen offensichtlichen Versuch, mich zu küssen, nicht noch peinlicher für ihn zu machen, schweige ich darüber und schlage ihm vor, wieder rein zu gehen, da die Wolken sich mittlerweile wieder zugezogen haben. Er wirkt erleichtert darüber, dass ich nichts weiteres dazu sage oder ihm Fragen stelle, denn seine Gesichtsmuskeln entspannen sich sichtbar wieder. Er nimmt meinen Vorschlag an und wir brechen auf.
Ich war mir eigentlich sicher, dass Kentin keinerlei Gefühle mehr für mich hegt. Woher kommen die plötzlich wieder? Oder waren sie nie weg? Ich war vorhin wie versteinert. Das war alles so seltsam! Dann ... Dann war da auch noch Nathaniel. Als wäre es nicht schon seltsam genug gewesen, nein, er hat verstanden, was Kentin gerade versucht hat und hat sich dementsprechend fehl am Platz gefühlt. Es muss ihm so unangenehm gewesen sein, allerdings ging es mir kein Stück anders. Was für ein seltsamer Tag ...

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt