"Was hast du vor?", fragt mich Kentin mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und zusammengezogenen Augenbrauen. Eigentlich wollten wir zusammen diese Mittagspause verbringen, doch ich würde lieber in die Bibliothek gehen, um mich nach einem Buch umzuschauen, das ich bisher nicht im Einkaufszentrum gefunden habe.
"Ich würde lieber in die Bibliothek gehen."
"Hmm."
"Ich denke nicht, dass du mitkommen möchtest, oder?"
Er lächelt mich an und antwortet: "Sagen wir es so: Ungern. Du weißt ja, ich und lesen passt nicht ganz zusammen. Ich verbinde das immer mit Schule und das wiederum mit Stress."
Ich lache über diese Verbindung und nicke ihm zu, er scheint zu verstehen, dass ich ihm das nicht verübeln kann und verabschiedet sich, um sich auf die Suche nach Alexy und Armin zu machen. Ich schnappe meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Bibliothek. Dabei begegne ich Castiel und Lysander im Treppenhaus. Lysander bemerkt mich noch vor Castiel und lächelt mir zu, während sich Castiel in meine Richtung umdreht, um zu sehen, wen sein bester Freund meint.
"Hi Lisa", begrüßt er mich mit verschränkten Armen und regungsloser Mimik.
"Hey! Alles klar bei euch?"
"Natürlich", antwortet mir Lysander, "und bei dir?"
"Ebenfalls, freut mich zu hören. Wollt ihr denn gar nicht essen gehen?"
Castiel beginnt zu grinsen. "Das selbe könnte man dich fragen, Kleine", bemerkt er.
"Wir wollten uns gleich auf den Weg machen, möchtest du mitkommen?", bietet Lysander mir an.
Castiel wirft ihm einen fragenden Blick zu, doch Lysander reagiert nicht darauf, sondern wartet meine Antwort ab.
"Ach, nein. Das ist sehr lieb von dir aber ich würde gerne in die Bibliothek gehen."
"Um noch mehr zu lernen und die Zeit ohne den nervigen Schülersprecher auszunutzen?"
"Kannst du nicht mal mehr seinen Namen aussprechen, Castiel?" Ich lächle ihn ein wenig an.
"Wenn ich es vermeiden kann, dann tue ich das auch."
Das Lächeln bleibt unerwidert. Castiel lächelt, grinst oder lacht irgendwie nie, außer wenn er mich ärgert. Damit habe ich mich aber auch schon länger abgefunden, trotzdem kam das am Anfang sehr schroff rüber und er wirkte somit alles andere als sympathisch oder überhaupt wie ein Wesen mit Gefühlen. Ich verabschiede mich von den beiden und gehe noch die restlichen, fehlenden Meter zur Bibliothek.
Als ich die Tür zu dieser öffne, kommt mir direkt der Geruch von neuen und alten Büchern entgegen. Ich fühle mich aus irgendeinem Grund wohl in dieser Umgebung. Beim Durchlauf durch die einzelnen Gänge, halte ich Ausschau nach einem der Romane von Riley Gooddess. Er schreibt mehr oder weniger Romane für heranwachsende Jugendliche. Sie beinhalten viel Drama aber auch Liebe und Humor. Dabei werden ernstere Themen, wie unverhoffte Schwangerschaften aufgegriffen und somit interessant verpackt. Seine Zielgruppe beschränkt sich eher auf Frauen, Männer können mit ihm nicht sonderlich viel anfangen. Auch Alexy hat eines seiner Bücher angefangen zu lesen, jedoch nie beendet, da es ihn nicht wirklich angesprochen hat. Er fand es schon beinahe langweilig.
Plötzlich vernehme ich einen lauten Knall und ein Fluchen von ein paar Gängen weiter. Ich zucke vor Schreck leicht zusammen und überlege nachzuschauen, ob dort jemand Hilfe braucht. Gedacht, getan. Ich gehe langsam in die Richtung, aus der die Laute gekommen sind und entdecke schließlich Nathaniels Rückenprofil, wie er gerade das Buch wieder aufhebt, das ihm zuvor hinuntergefallen ist. Für einen kurzen Moment überlege ich, mich leise wieder von ihm zu entfernen. Er ist nicht im Unterricht aber hier, vielleicht möchte er nicht gestört werden. Andererseits würde ich gerne mit ihm ein paar Worte wechseln und da platzt es aus mir heraus: "Ist alles in Ordnung?"
Ich scheine ihm einen kleinen Schrecken eingejagt zu haben, denn er dreht sich so schnell um, dass er erneut das gerade aufgehobene Buch, sowie drei weitere fallen lässt. "Das darf doch nicht wahr sein!"
Ich nähere mich ihm vorsichtig an und helfe ihm, die Bücher wieder aufzusammeln. Dabei schaue ich ihn nicht an und bleibe stumm. Ich reiche sie ihm noch in der Hocke rüber und verspüre seinen Blick auf mir. Ich richte meine Augen von dem Buch, auf ihn aus und treffe dabei auf seine honiggelben Augen. Unsere Gesichter trennt nicht mal eine Armlänge voneinander. Wir sprechen weiterhin kein Wort, stattdessen schauen wir uns nur an. Wie am ersten Schultag, als ich gerade den Klassenraum betreten habe und er von seinem Buch aufschaut, zu mir. Seine Wangen färben sich zu einem deutlich rosafarbenen Ton. Ich versuche das Eis zu brechen, indem ich mich entschuldige: "T-Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Macht nichts", beruhigt er mich und steht auf, was ich ihm gleich tue, "es ist ja nichts weiter passiert."
Ich streiche mir etwas verunsichert über den linken Unterarm, während er die Bücher auf den nächstgelegenen Tisch ablegt.
"Was machst du hier?", fragt er und ich halte die Antwort für offensichtlich, ehe mir wieder einfällt, dass man normalerweise die Mittagspause zum Essen nutzt.
"Ich habe nach einem Buch gesucht."
"Tatsächlich, hm?" Seine Stimme klingt plötzlich so leblos.
Er wirkt so, als würde er sich Gedanken um etwas machen oder ihn etwas belasten. Ich hacke aber nicht nach. Als ich ihm dabei zuschaue, wie er weitere Bücher aus den Regalen räumt, um sie anschließend auf den Tisch zu legen, beginne ich mich unwohl zu fühlen. Ich beschließe, mich leise wieder von ihm zu entfernen, da es den Eindruck macht, als wäre ich sowieso nicht mehr da für ihn. Er scheint meine Schritte nicht überhört zu haben und es entsteht Stille. Unklar darüber, ob er mir gerade hinterher schaut oder sich seinen Büchern widmet, gehe ich weiter.
"Hey", höre ich ihn mit leiser Stimme mir hinterher sagen. Ich drehe mich um, um ihn anzusehen und frage: "Ja?"
"Wo ... Wo gehst du denn hin?"
"Ich, ähm", beginne ich, "ich wollte dich nicht weiter stören."
Er wendet seinen Blick wieder zu dem Tisch. "Tust du nicht", antwortet er.
Verwundert über seine Worte, schaue ich ihn an. Er richtet seine Aufmerksamkeit ebenfalls wieder auf mich aus und beginnt, mich anzulächeln. Leicht überfordert mit dieser Situation gerade, biete ich ihm meine Hilfe an, bei dem, was er da gerade tut. Er winkt ab.
"Ich wollte sowieso gerade Pause machen. Möchtest du einen Kakao? Ich helfe dir danach auch, nach deinem Buch zu suchen."
Ein freudiges Gefühl über dieses Angebot steigt in mir auf und ich nicke, um ihm Bestätigung zu geben. Er nickt mir lächelnd zurück und macht sich auf den Weg in einen Hinterraum.
"Soll ich hier warten?"
Er sieht noch einmal zu mir zurück, bevor er antwortet, dass ich mit ihm kommen kann, wenn ich möchte. Das tue ich dann auch. Angekommen in dem kleinen, farblosen Raum, in dem eine Kaffee- und Kakaomaschine steht, lehne ich mich an eine der Küchentheken an.
"Ich wusste nicht, dass du gerne liest", fängt er ein Gespräch an, wobei er alles für einen heißen Kakao vorbereitet. An diesem regnerischen Tag könnte ich mir kaum etwas wohltuenderes vorstellen.
"Und ob!"
"Naja", überlegt er, "wir kennen uns ja auch kaum. Wie könnte ich das wissen ..."
Bei dieser Bemerkung kommt mir sofort in den Sinn, ihm vorzuschlagen, dass wir uns besser kennenlernen können und beinahe spreche ich diesen Satz auch aus. Ich halte noch einen kurzen Moment inne, der mich schließlich anders entscheiden lässt. Ich sage gar nichts darauf.
Das Geräusch des umrührenden Löffels in der Tasse, aufgrund des restlichen Kakaopulvers, der sich noch nicht aufgelöst hat, übertönt die wiedereingekehrte Stille.
"Sag mal, wo warst du gestern? Ging es dir nicht gut?", erkundige ich mich nun doch.
Er schaut mich für einen kurzen Moment an. "Richtig."
"Oh ...", spreche ich mit sanftem Ton aus, "Aber jetzt ist alles wieder gut?"
"Ja." Er hat bereits die zweite Tasse fertig und reicht sie mir rüber. "Wollen wir wieder zurück dahin, wo wir vorhin waren? Hier ist es so trüb und eng." Ich lache leise darüber, da er recht hat und ich mich schon beginnen wollte zu fragen, warum dieser Raum überhaupt so aussehen sollte.
Angekommen an unserem vorherigen Platz, schnappen wir uns gleichzeitig zwei Stühle und setzen uns schräg gegenüber an den leicht beladenen Tisch.
Nathaniel trinkt einen Schluck, ehe er eine Frage stellt: "Warum ist dir überhaupt aufgefallen, dass ich gestern nicht da gewesen bin?"
Ich spüre, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen. Warum werde ich gerade nervös? Es gibt nichts zum nervös werden! Ich sage ihm das, was ich auch mir selbst gestern nochmal klar gemacht habe.
"Nun, du sitzt direkt vor mir. Da ist es doch logisch, dass mir das auffällt."
Seine Mundwinkel verziehen sich zu einer Art waagerechten Linie. Er umfasst mit beiden Händen seine Wärme Tasse Kakao und ich tue es ihm, unbeabsichtigt, gleich.
Er hackt weiter nach: "Vielleicht habe ich das vorhin falsch gedeutet aber deine Stimmlage war so leise, dass man es beinahe mit Besorgtheit hätte verwechseln können. Kam mir das nur so vor? Ja, oder? Ich meine ... Wie gesagt. Wir kennen uns ja kaum."
Ich schaue ihn mit leicht geöffnetem Mund eine Weile lang an. Er weicht meinem Blick aus, indem er auf den aufsteigenden Dampf aus seiner Tasse starrt. Ein Teil von mir würde ihm gerne die Wahrheit sagen, der andere Teil ist abgeschreckt davon, dass er nun schon zum zweiten Mal gesagt hat, dass wir uns kaum kennen. Das verunsichert mich etwas und ich bin so schon nicht gerade die Beste darin, ihre Gefühle und Gedanken jemandem ins Gesicht zu sagen. Ich hole möglichst unauffällig tief Luft, ehe ich versuche ihm zu antworten: "A-Also ..." Er beginnt mich aus dem Augenwinkel zu betrachten, als er mein Gestotter hört und diesmal bin ich diejenige, die seinem Blick ausweicht, indem ich auf das Bücherregal hinter ihm schaue. Ich möchte ihn nicht mit der Wahrheit verschrecken, immerhin bin ich selbst verwundert darüber, dass ich mir ungewöhnlich viele Gedanken darum gemacht habe, wo er steckt und wissen wollte, wie es ihm geht. Vielleicht möchte er aber genau das hören? Er hat schließlich kaum jemanden an dieser Schule. Gut, er hat Melody, eine schon beinahe Psychoverehrerin seiner Wenigkeit. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass das das Wahre ist.
"Ja?"
Nathaniel reißt mich aus meinen Gedanken, zurück in die Realität und unser Gespräch zurück. Scheinbar hat er gemerkt, dass ich nicht mehr ganz bei ihm bin, sondern irgendwo zwischen meinen Überlegungen feststecke und wollte mich daran erinnern, dass er auch noch da ist.
Im Kurzschluss entscheide ich mich: "Es wundert mich, dass das für dich so rübergekommen ist. Das war nicht beabsichtigt. Trotz dass wir uns kaum kennen, möchte ich ehrlich zu dir sein. Es wäre dumm, dir etwas anderes zu erzählen", fange ich an ihm zu antworten und nehme noch schnell zwei Schlücke meines Kakaos, ehe ich fortfahre: "Du hast dir das -"
"Nathaniel?"
Nathaniels Augen wenden sich zu einer weiblichen Person hinter mir und bevor ich mich überhaupt umdrehe, ahne ich bereits, dass es Melody ist. Ich lasse meinen Blick nach hinten schweifen und da steht sie. Pünktlich, um den Moment zu zerstören.
"Lisa, was machst du denn hier?"
"Ich war eigentlich nur hier um ein Buch zu suchen und da habe ich Nathaniel getroffen. Er war so freundlich und hat mir einen Kakao gemacht, das ist alles."
Ihr fragwürdiger, prüfender Blick an mich schlägt sofort zu einem Lächeln um, nachdem sie das gehört hat. Zufrieden antwortet sie: "Achso, ich brauche ihn jetzt aber in der Schülervertretung."
Ich nicke und trinke noch einige große Schlücke meines Kakaos. Nathaniel sieht mich kurz an.
"Melody", beginnt er, "ist es wirklich wichtig? Ich war gerade dabei eine Pause einzulegen, von der Arbeit hier."
Sie zieht eine Art Schmollmund, den ich noch gerade so über der Tasse hinaus erblicken kann, während ich dabei bin auszutrinken, um anschließend zu gehen. Wenn Melody jetzt da ist, um Nathaniel mitzunehmen, hat sich das hier erledigt. Keine Ahnung, ob ich überhaupt noch mein Buch finden möchte. Ich fühle mich komisch, es ist als würde mein Magen sich gerade ein wenig verwirbeln. Vielleicht, weil ich den Kakao zu schnell trinke.
"Ja, es ist schon wichtig!"
Nathaniel stößt einen Seufzer aus und will mir gerade etwas sagen, da schneide ich ihm auch schon das Wort ab: "Danke für den Kakao. Ich finde mein Buch auch alleine, allerdings ein anderes mal. Ich hole mir jetzt doch noch schnell eine Kleinigkeit zu essen."
Ich stehe auf, schnappe meine Tasche und lasse beide hinter mir zurück. Melodys Erscheinen hat mich gerade wirklich aufgeregt. Viel mehr, als ich im ersten Moment gedacht habe. Ich hatte mich gerade gesammelt, um einen Schritt auf Nathaniel zuzugehen, weil ich ihn näher kennenlernen möchte und dann ... Man. Ich habe keine Lust mehr darauf, ihn kaum zu kennen. Ich würde es gerne ändern.
Wer weiß, wann ich das nächste Mal so eine Gelegenheit wieder bekomme.
Man ist immerhin nicht alle Tage in der Schule für einen Moment unter sich.
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Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]
FanfictionLisa ist bereits seit einem Jahr auf dem Gymnasium Sweet Amoris. Sie hat sich eingelebt, neue und alte Bekanntschaften gemacht und gibt ihr bestes, gute Noten zu schreiben und somit einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Doch im neuen Schuljahr...