29. Mutig - mutiger - Kentin

708 41 10
                                    

Nach eineinhalb Wochen hat es sich bei Nathaniel wieder etwas eingeränkt. Der Sozialarbeiter, der zu ihnen nachhause geschickt wurde, hat für erste Veränderungen gesorgt. Nathaniels Eltern sind bereit dazu ihren Sohn für mündig erklären zu lassen. Zuerst haben sie sich noch dagegen gesträubt, was ich auch irgendwo nachvollziehen kann, aber am Ende haben sie dem zugestimmt. Vor allem um weitere Komplikationen mit dem Jugendamt zu verhindern.
"Könntest du vielleicht mit dem nervigen Tippeln aufhören?"
Der rothaarige Castiel sieht mich mit mürrischem Blick an. Unbewusst habe ich mit meinem Stift immer wieder rhythmisch den Tisch berührt.
"Oh ... Ja, tut mir leid."
"Kein Problem."
Wir wurden als Partner für diese Geschichtsstunde festgelegt.
Ich drehe mich kurz in die Richtung, wo Nathaniel zusammen mit Armin sitzt. Sie lachen. Es sieht so aus, als würden sie gut miteinander auskommen. Nathaniel ist nicht mehr der verschlossene Typ von damals. Er wirkt offener und somit auch auf Anhieb sympathischer. Es ist schön, das alles hautnah mitzuerleben.
"Kannst du jetzt mal aufhören deinen Idiotenfreund anzugaffen und mir stattdessen helfen?!"
Erschrocken zucke ich zusammen und wende mich mit einem verunsicherten Lachen wieder meinem Partner zu.
"Mein Gott ...", stöhnt er genervt und verdreht die Augen.
"Wenn du willst, kannst du dich jetzt auch zurücklehnen und ich mache den Rest alleine?"
"Pah", lacht er, "es reicht, wenn du deine Aufmerksamkeit auf mich und diese beschissene Aufgabe richtest."
Ein schelmisches Grinsen macht sich auf seinen Lippen breit, während er mir mit seinem Gesicht ein wenig näher kommt. Sofort gerät mein Herz außer Kontrolle, da ich nicht weiß, was ich sagen oder machen soll.
"Na sieh mal einer an, verwirre ich dich etwa?"
Seine Worte werden von Mal zu Mal leiser und sanfter.
"N-Nein ... Du rückst mir nur ein wenig auf die Pelle ..."
In dem Moment dreht sich Kentin zu uns um, der vor uns mit Alexy sitzt. Dieser tut es dem Brünetten gleich.
"Hey! Noch nie was von persönlichem Freiraum gehört?", fährt Kentin Castiel an.
Castiel schenkt ihm nur einen fragenden Blick.
"Warum so aufmüpfig?", fragt Alexy neugierig seinen Sitznachbarn.
Ich bin ebenfalls erstaunt über dessen Einwand. Seit er mich beim letzten Mal mehr oder weniger fertig gemacht hat, hat er wieder kein Wort mehr mit mir gewechselt.
"Dreh dich mal wieder um, sonst komme ich dir darüber!"
"Castiel ...", zische ich.
"Was?!"
"Muss das sein?"
"Er hat doch angefangen?!"
"Komm, wir machen jetzt weiter ..."
Alexy scheint meine Ansicht zu teilen, denn er dreht Kentins Gesicht wieder dem Tisch und den daraufliegenden Aufgaben zu.
"Achja, Lisa", flüstert Castiel, "ich habe noch nicht aufgegeben, nur damit du das weißt."
Mir fehlen die Worte. Auf einmal wird eine Hand auf meiner linken Schulter abgelegt. Ich sehe auf und erkenne Nathaniel neben mir stehen, der Castiel mustert.
"Nathaniel, was machst du da?", ruft Mr. Faraize in die Klasse.
"Ich wollte Lisa nur nach einem Stift fragen, ich begebe mich gleich zurück auf meinen Platz!"
Die Worte des Schülersprechers klingen genauso, wie man sie als Lehrer hören will. Verantwortungsbewusst, vertrauenswürdig und versichernd. Mr. Faraize nickt seinem Schüler bestätigtend zu und Nathaniel beugt sich zu meinen Stiften rüber, woraufhin er sich einen nimmt. Wie ich mir das aber bereits denken konnte, war das nur ein Vorwand. Er richtet seine Augen wieder auf Castiel aus und spricht leise aber drohend: "Du solltest lernen besser zu flüstern. Ich habe gehört, was du gesagt hast."
Meine Arme überzieht eine Gänsehaut. Dieser Ton lässt mich unbehaglich fühlen.
Castiel zuckt mit den Schultern. Es scheint ihm recht zu sein, dass Nathaniel das mitbekommen hat. Wie er aber bereits Mr. Faraize gesagt hat, geht er, mit einem Stift in der Hand, zurück zu Armin. Ich sehe ihm noch kurz nach, bevor ich meinen Sitznachbarn wieder angucke. Dieser zuckt erneut mit den Schultern, um wohl auch mir noch einmal zu verdeutlichen, dass Nathaniel für ihn kein Hindernis darstellt.
Dieser Junge ...

"Bis morgen, ich schreibe dir", verabschiedet sich Nathaniel und gibt mir lächelnd einen Kuss auf die Lippen.
"Okay, ich warte darauf!"
Ich grinse ihn noch ein letztes Mal an, ehe er dann mit Melody in Richtung Schülervertretung geht. Mit meiner, heute seltsam schwereren, Tasche auf der Schulter, mache ich mich auf den Nachhauseweg.
"Warte mal", höre ich eine dunkle Stimme hinter mir.
Unsicher darüber, ob ich mich angesprochen fühlen soll oder nicht, verlangsame ich meine Schritte ein wenig.
"Lisa!"
Auf diese direkte Ansprache drehe ich mich um. Kentin!
"H-Hey", begrüße ich ihn zögernd.
"Ich muss mit dir reden."
"Okay?"
"Jetzt. Ich gehe ein Stück mit dir."
"Alles klar ..."
Er beginnt neben mir her zu laufen. Ich weiß gar nicht, in welche Richtung ich schauen soll und entscheide mich schließlich dazu, überall hinzugucken, hauptsache es ist nicht in sein Gesicht. Ich traue mich irgendwie nicht ...
"Du hattest Recht."
"A-Achja?"
"Ja. Ich war eifersüchtig."
"Achso", spreche ich ohne weiteres aus.
"Vielleicht bin ich es auch immer noch ..."
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er seine Hände in die camouflagegefärbten Hosentaschen steckt. Gleichzeitig bekomme ich einen Tropfen auf der Nase ab. Irritiert blicke ich in den Himmel. Er ist dunkelgrau und wirkt bedrohlich. Solange es nur bei Regen bleibt, kann ich damit leben ...
"Aber ist auch nicht so wichtig", murmelt er, "es ändert ja nichts."
"Kentin ..."
"Keine Sorge, ist schon okay."
"Also ... Bist du jetzt wieder ..."
"Normal zu dir?", beendet er meinen Satz mit einem Lächeln.
Nun sehe ich zu ihm und direkt in seine Augen. Sie strahlen. Er nickt als Antwort auf meine Frage.
"Naja, aber du musst verstehen ..."
"Was?"
Er wendet seinen Blick wieder von mir ab und sieht stattdessen zu Boden. Plötzlich bleibt er stehen. Ich tue es ihm gleich und gehe sogar noch ein paar Schritte auf ihn zu.
"Ach, nichts."
"Jetzt sag schon! Du hast bereits angefangen", kichere ich.
Er setzt ein schiefes Lächeln auf. Scheinbar ist ihm nicht wirklich nach Lachen zumute.
"E-Es ist eben deprimierend zu sehen, wie sogar jemand wie Nathaniel eine Chance bei dir hatte u-und ich nie."
"Oh ..." Mehr fällt mir nicht dazu ein.
"Ich meine, er schminkt sich sogar! Ich verstehe es einfach nicht."
Ich verdrehe die Augen. Am liebsten würde ich ihm den Grund dafür nennen, jedoch würde Nathaniel nicht wollen, dass ich seine Familienangelegenheiten weitererzähle.
"Ist doch wahr", schmollt Kentin.
"Sag das nicht so vorwurfsvoll ... Ich kann da doch auch nichts dafür."
Er geht die restliche Entfernung, die zwischen uns liegt, auf mich zu und beugt sich ein wenig mit seinem Gesicht zu meinem runter. Er ist nicht so groß wie Nathaniel und trotzdem noch groß genug, um das tun zu können.
"Tut mir leid."
Seine Worte klingen ehrlich und man hört sogar eine Spur von Reue aus ihnen heraus, wenn ich mich nicht irre.
"Wir kennen uns schon so lange", antworte ich sanft, "wie könnte ich dir da nicht verzeihen?"
Ich lächle ihn an, nachdem ich zuende gesprochen habe und er gibt mir große, verwunderte Augen zurück. Er will gerade etwas sagen, was ich an seinem sich öffnenden Mund erkenne, da fängt es, ehe wir uns versehen, wie aus Eimern an zu regnen. Reflexartig versuche ich mich mit meinen kurzen Armen zu schützen.
"Komm her", höre ich Kentin sagen. Mit einem kräftigen Ruck zieht er mich an sich und umarmt mich feste. Sein Kinn legt er dabei auf meinem Kopf ab. Als würde es ihn nicht stören, wie unzählige Tropfen auf ihn niederprasseln, verweilen wir so. Ich bin von Wärme umgeben und vor dem Regen geschützt sowie froh, dass Kentin mich noch angehalten hat, bevor ich die Schule verlassen habe. Ich spüre, wie er seine Lippen für ein paar Sekunden auf meinen Kopf drückt. Früher hat er das oft gemacht, wenn ein Gewitter aufgezogen ist und wir gerade zusammen waren. Zwar mit knallrotem Kopf, wie ich danach immer erkennen konnte, aber ich habe es immer zugelassen und er es somit auch immer wieder gemacht. Gerade aber ist keines weit und breit zu entdecken oder zu hören, weswegen ich das als eine weitere Form seiner Entschuldigung interpretiere.
"Kann ich dir ein Geheimnis von mir anvertrauen?"
Ich will in sein Gesicht gesehen, doch er hält mich auf, indem er mit seinem Kinn leicht meinen Kopf wieder runterdrückt.
"Natürlich ... Das weißt du aber doch auch?"
"Ja, schon. Das ist aber ein ziemlich ... heftiges Geheimnis."
"Erzähl es mir, das tut dir bestimmt gut!"
"Da wär ich mir nicht so sicher", schmunzelt er.
Mein Herz beginnt leicht zu rasen. Er soll mich nicht so auf die Folter spannen, meine Neugier kann von Null auf Hundert eskalieren und meinen Körper ganz schön zusetzen.
"I-Ich ..."
Gespannt warte ich darauf, dass er weiterspricht. Währenddessen sehe ich, wie der Regenschauer noch kein bisschen schwacher geworden ist.
"I-Ich würde dich gerade wirklich gerne küssen ..."
Oh nein!
"Aber ... Das hast du doch bereits?"
Ich stelle mich dumm, um ihn seine Worte noch einmal überdenken zu lassen.
"Du weißt wohin ich dich küssen will."
"Ä-Ähm ..."
Verflixt! Er kennt mich zu gut. Ich löse mich aus der Umarmung. Mit offenen Karten spielen ist das beste und fairste, was ich jetzt tun kann.
"Kentin, ma-"
Er unterbricht mich, indem er mir mit einer seiner großen Hände den Mund zuhält. Der Regen fällt bereits ungehemmt auf mich herab und ich spüre jetzt schon, wie meine Haare nach und nach weiter durchnässen und sich an meinen Nacken festkleben. Ich kann so schnell gar nicht gucken, da packt Kentin blitzschnell mein Gesicht und zieht es näher an seines heran.

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt