34. In die Enge getrieben

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Die letzte Nacht war grauenvoll. Von erholsamem Schlaf war überhaupt nicht die Rede.
Mit leicht erkennbaren Augenringen betrete ich die Klasse. Ich bin gerade noch so pünktlich.
"Lisa", spricht mich Mr. Faraize an, "bitte setz dich neben Kentin. Ihr arbeitet diese Stunde zusammen."
Es fällt mir nur schwer einen Seufzer zu unterdrücken, um den Brünetten, der bereits ungeduldig auf mich wartet, damit nicht indirekt zu beleidigen. Schlürfend begebe ich mich zu ihm. Auf dem Weg dorthin suche ich mit meinem verschlafenen Blick nach Nathaniel. Schlussendlich entdecke ihn neben Lysander sitzend. Die beiden unterhalten sich, scheinen aber dabei voll und ganz auf die Aufgabe konzentriert zu sein. Nathaniel hat wohl meinen Blick auf sich gespürt, denn er wendet für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit zu mir. Er lächelt warm. Ich lächle zurück.
"Guten Morgen", begrüßt mich Kentin charmant.
Ich sehe zu ihm, bevor ich mich auf dem Platz neben ihm niederlasse. "Hey."
"Ähm ... Ist irgendwas?"
"Nein", lüge ich halbwegs, "ich habe nur nicht gut geschlafen."
"Das sieht man dir an", lacht er leicht.
"Sehe ich so fertig aus?"
In trägenden Bewegungen packe ich meinen Collegeblock und irgendeinen Stift, der mir gerade zwischen die Finger rutscht, aus.
"Nein, du siehst gut aus."
Folglich sehe ich ihn verwundert an. Gleichzeitig fällt mir wieder ein, in welcher Situation ich ihn auf meiner Geburtstagsfeier aufgefunden habe.
"Sag mal", beginne ich zu flüstern. Er rückt ein wenig näher zu mir, mit seinem Ohr, und ich komme ihm mit meinen Lippen entgegen. Ich spüre einen Blick auf mir, während ich dies tue, und hoffe inständig, dass es nicht Nathaniels ist. Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken. "Wie kam es eigentlich dazu, dass du und Alexy euch geküsst habt?"
Auf meine Frage hin rückt er blitzartig wieder von mir weg. Seine Augen sind geweitet, da er offensichtlich nicht damit gerechnet hat. Prüfend sehe ich ihn an, wobei ich meinen Arm auf dem Tisch, vor mir, ablege und meinen Kopf auf dessen Hand abstütze.
"W-Wovon ... Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst!", zischt er wütend.
"Versuch es nicht zu verleugnen", antworte ich Augen verdrehend, "ich habe euch zufällig dabei gesehen."
Seine Wangen erröten sich in Sekundenschnelle. "L-Lüg nicht!"
"Gleichfalls."
Er dreht sich mit seinem Gesicht weg von mir, schiebt mir aber das Aufgabenblatt zu, das wir bearbeiten sollen.
"Lenk nicht vom Thema ab", lache ich leise. Ich beuge mich mit dem Körper wieder etwas zu ihm, auch wenn er sich nur weiter von mir entfernt, bis es nicht mehr geht. "Du kannst mir doch vertrauen?"
"D-Das ist es n-nicht."
"Was dann?"
"I-Ich ..."
Ich tippe ihn an, mit der Absicht dass er mich seines Blickes würdigen soll. Das tut er schließlich wieder, jedoch bedrückter als zuvor.
"I-Ich mache gerade eine schwierige Zeit durch. Antwort genug?"
Überhaupt nicht.
Respektvollerweise akzeptiere ich letztlich seine Antwort und biete ihm an, dass er jederzeit zu mir kommen kann. Eine schwierige Zeit. Ob Alexy deshalb nicht so glücklich reagiert hat, als ich ihn darauf angesprochen habe? Kentins Antworten nach zu urteilen scheint er in einem ziemlich starken inneren Konflikt zu stecken.

Nach der letzten Stunde packen Nathaniel und ich unsere Sachen zusammen. Aus dem Augenwinkel sieht er mich immer wieder an, was nicht einfach so an mir vorbei geht, doch ich tue so als würde ich es nicht merken.
"Du bist ganz schön blass ... Geht es dir nicht gut?"
Sein besorgter Tonfall ist so liebenswert aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich gerade viel lieber nachhause gehen würde, als mit ihm ins Krankenhaus. So unerwünscht wie ich von seiner Mutter bereits bin, kann das nicht gut gehen.
"Doch, alles bestens. Wo ist eigentlich Amber? Kommt sie nicht mit?"
Er mustert mich einen Augenblick, ehe er mit dem Kopf schüttelt. "Nein, nicht sofort. Ich habe vorhin, als du mit Rosalia in der Mensa warst, mit ihr darüber diskutiert, dass sie ihren Friseurtermin doch bitte verschieben soll. Sie hat mir versichert, dass das ganz schnell geht und dann würde sie direkt kommen."
"Ernsthaft jetzt?", frage ich schockiert. Sie ist doch Daddys kleiner Engel, wie kann sie da nicht sofort zu ihm wollen?
"Meine Mutter sieht das auch nicht so drastisch, da sie bereits bei ihm ist und ihr durch einen Anruf überbracht hat, dass es ihm soweit ganz gut geht."
Ich gebe keinen Kommentar dazu ab. Dass das ganz anders ausgesehen hätte, wenn Nathaniel an Ambers Stelle gewesen wäre, ist ihm wohl selbst klar genug.
Ich schwinge meine Tasche auf die Schulter und greife nach seiner Hand, nachdem er das Selbe mit seiner getan hat. Er lächelt. "Danke, dass du mitkommst."
Ich winke lachend ab. Sein Lächeln breitet sich weiter in seinem Gesicht aus.
"Lass uns gehen", schlage ich vor und warte gar nicht weiter auf eine Antwort von ihm, indem ich einfach losgehe und ihn hinter mir her ziehe.
"Warte!"
Bereits im Rahmen der Tür des Klassenzimmers zieht er mich zu sich zurück. Ich erschrecke durch die ruckartige Bewegung und finde mich fest umschlungen in seinen Armen wieder. Er kommt mir mit dem Gesicht immer näher, bis seine Lippen auf meine treffen. Ich spüre ein kleines Lächeln seinerseits unter diesem Kuss, was mich mit Glücksgefühlen erfüllt. Sanft drücke ich mich ein wenig gegen ihn, während sich unsere Lippen harmonisch miteinander bewegen. Ich würde am liebsten hier bleiben, die Tür verschließen und ihn weiter küssen, so lange ich will.
Mit der Auflösung unseres letzten Kusses bleibt dies nur eine Wunschvorstellung.
"I-Ich", stammelt er, "wollte dich noch einmal richtig küssen, bevor wir gehen."
Das Blut schießt mir in die Wangen, wobei ich ihn anlächle. "Gerne wieder!"

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt