2. Was hat sich verändert?

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Nathaniel und ich lassen unseren gegenseitigen Blick in die Augen verweilen. Es sind vermutlich gerade mal drei Sekunden vergangen, doch es fühlt sich an, als würden wir bereits seit drei Stunden nichts anderes machen.
Rosalia holt mich zurück, in die Realität: "Wo wollen wir uns hinsetzen?"
Als sie ihr letztes Wort zu Ende ausspricht, schenkt Nathaniel all seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch. Irritiert über das, was gerade geschehen ist, bin ich nicht dazu in der Lage, Rosalia eine Antwort zu geben. Es war nur ein kurzer Blickkontakt, doch ich wollte aus irgendeinem Grund mehr, als nur das. Ich wollte, dass er mir etwas erzählt. Etwas über sich und warum er nur mit seinen Büchern oder dem Kram, den Schülersprecher so machen, beschäftigt ist. Macht es ihm wirklich so sehr Spaß oder sieht es in ihm drin eigentlich ganz anders aus?
"Erde an Lisa!"
Ruckartig richte ich meinen Blick auf Rosalia aus, die mich erneut schelmisch angrinst. Ich habe Nathaniel schon wieder angestarrt, während ich nachgedacht habe.
"Willst du dich zu ihm setzen?", flüstert sie mir zu. Ich schüttle mit dem Kopf. Es wäre komisch, mich völlig aus dem Nichts neben ihn zu setzen und direkte Antworten, auf meine Fragen, würde ich sowieso nicht bekommen.
Wir sind nunmal nicht miteinander befreundet. Gute Bekannte, wenn überhaupt.
"Lass uns in die zweite Reihe, links an den Fenstern sitzen."
"Achso, du willst dich erst an ihn heranwagen, indem du dich hinter ihm hinsetzt? Du pirschst dich an, eine kluge Taktik!"
Ich sehe sie entsetzt an. Das konnte sie einfach nicht ernst meinen. Erneut schüttle ich mit dem Kopf, jedoch diesmal mit einem leichten Lachen. Angekommen an unseren Sitzplätzen, klingelt die Schulglocke zum zweiten Mal. Der Unterricht fängt an und damit auch das neue Schuljahr.

Der erste Schultag ist, wie immer, schnell vorüber. Die Lehrer müssen sich selbst erst einmal wieder darauf einstellen, fünf Tage die Woche Unterricht zu geben.
Als ich meine neu erhaltenen Bücher, von heute, in meinen Spind hineinlege, bin ich zuversichtlich eingestimmt. Dieses Jahr wird mein Jahr! Ich werde meine Eltern stolz machen, indem ich ein gutes Zeugnis vorzeigen kann und mir selbst ebenfalls damit eine Art Glücksgefühl schenken. Es wird zwar hart werden aber noch ist meine Motivation nicht zu bremsen. Ich kann nur hoffen, dass ich auch so diszipliniert eingestellt bleibe.
Ich höre wie die Klassenzimmertür zuschlägt und drehe mich um, um zu sehen, wer dort noch herausgekommen ist. Als hätte ich es mir nicht denken können, ist es Nathaniel. Unsicher darüber, ob ich ihn begrüßen soll, sehe ich ihn verstummt an. Er packt einen seiner Kugelschreiber zurück in seine Hemdtasche und bemerkt mich somit auch nicht.
Plötzlich höre ich aus meinem Spind, wie etwas verrutscht und ehe ich mich versehe, ist eines meiner Bücher raus und auf den Boden gefallen. Ein lautes Klatschen lässt mich und Nathaniel gleichzeitig erschrecken. Völlig erstarrt, aufgrund der Tatsache, dass ich für diese Lautstärke verantwortlich bin und er mich entdeckt hat, sehe ich ihn an.
"Dir ...", beginnt er zu sprechen, "dir ist da ein Buch aus dem Spind gefallen."
Warum ist es plötzlich so seltsam, merkwürdig zwischen uns? Vor den Ferien haben wir ohne weiteres miteinander gesprochen, wenn wir uns mal auf dem Gang getroffen haben und er nicht gerade im Stress war, mit seinen alltäglichen Aufgaben hier und Lernen. Jetzt aber kriege ich kaum ein Wort heraus und starre ihn wie eine Geisteskranke an. Ob er vielleicht heute Morgen doch gemerkt hat, wie ich ihn konstant angeschaut habe? Es war keine Absicht aber es ist sehr leicht misszuverstehen. Ich sehe wie Nathaniel auf mich zukommt und somit löse ich mich aus meiner Erstarrung. Er hebt das Buch auf und fragt: "Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so abwesend."
Verlegen fasse ich mir mit einem unsicheren Lachen an den Kopf. "Alles bestens, du hättest das nicht für mich aufheben brauchen."
"Kein Problem." Er legt das Buch zurück dahin, wo es eigentlich hingehört und wendet sich wieder zu mir. "Was machst du hier überhaupt noch?"
"Ich wollte bloß meinen Spind einräumen, um mir unnötige Schlepperei zu ersparen und du?"
"Ich habe noch ein Kapitel zu Ende gelesen. Ich bin öfters noch nach Schulschluss hier."
Einen kurzen Augenblick denke ich darüber nicht nach, ob ich es mir erlauben kann, so neugierig zu sein und hacke nach: "Warum machst du das nicht zuhause?"
"Nun, du kennst ja Amber. Unsere Zimmer sind zwar nicht nebeneinander aber sie telefoniert so viel mit Charlotte und Li, dass ich sie bis zu mir laut und deutlich verstehen kann. Als würde es nicht schon reichen, dass sie jede Minute in der Schule miteinander verbringen und dort reden können. Um mich also besser konzentrieren zu können, bleibe ich noch etwas hier und genieße die Ruhe."
Trotzdessen dass ich etwas erstaunt darüber bin, nicke ich lächelnd.
"Das ist ziemlich klug von dir", merke ich an. Er lächelt zurück, ehe er seinen Blick zur Seite wendet.
"Also, ich mache mich dann auch mal auf den Weg nachhause", fängt er an sich zu verabschieden, "wir sehen uns morgen, wir sind ja jetzt immerhin in einer Klasse."
"Ja, bis morgen."
Er lächelt mir noch einmal zu und macht sich auf den Weg Richtung Ausgang. Als ich ihm hinterherschaue, überkommt mich plötzlich der Drang, ihm noch etwas zu sagen. Obwohl ich mir sonst immer so viele Gedanken mache, ist dem diesmal nicht so, weswegen ich seinen Namen rufe. Sofort dreht er sich zu mir um. Mein Herz beginnt mir bis zum Hals zu schlagen. Ich habe nicht die leistete Ahnung, was ich ihm überhaupt noch sagen will oder zu sagen habe und improvisiere: "Ich freue mich darüber, dass wir in einer Klasse sind!"
Sein Gesichtsausdruck beginnt Verwunderung über meine Worte auszustrahlen. Obwohl er schon etwas weiter entfernt ist, sieht es so aus, als würden sich seine Wangen rötlich färben.
"I-Ich ...", stottert er, "ich mich auch!" Er dreht sich wieder um und es sieht so aus, als würde er schneller gehen, als zuvor.
Mein Körper läuft heiß und es fühlt sich an, als würde er glühen. Was genau habe ich da gerade getan? Das war so unglaublich seltsam, ich kann es nicht nachvollziehen. Es ist doch nur Nathaniel und kein Leonardo DiCaprio oder Zac Efron. Ich verhalte mich wie der letzte Trottel. Wütend über mich selbst, schlage ich die Tür meines Spindes zu und will nur noch nachhause. So spontan handele ich normalerweise nicht. Aber ... Er hat gesagt, dass er sich auch freut. Hat er das nur aus Höflichkeit getan oder mag er mich vielleicht sogar? Allerdings kann ich mir letzteres nicht vorstellen. Dafür macht er einen zu sehr isolierten Eindruck auf mich. Er findet mich wohl einfach nur nett, das ist alles.
Das reicht ja auch, das hat es bisher immer getan.

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt