14. Kraftlos

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Ich: In der Bibliothek, direkt nach dem Unterricht?
Nathaniel: Einverstanden :)

Als die letzte Stunde für heute endlich begonnen hat, kann ich es kaum erwarten, bis auch diese endlich vorbei ist. Weniger als eine Stunde trennt mich noch von diesem hübschen, intelligenten Jungen. Ich merke gar nicht, wie meine Augen sein Rückenprofil anschmachten, bis Rosalia sich zu mir rüber lehnt und ich mich erschrecke.
"Nicht mehr langeee", sagt sie in einem melodischen Ton. Ich lächle sie erfreut an, woraufhin sie mir einen ermunternden Klaps auf die Schulter gibt. Ich wende meinen Blick wieder zu Nathaniel, der gerade aus dem Fenster, neben sich, schaut. Ich kann sein Gesicht von der Seite aus sehen und wie das helle Licht von draußen, sich in seinen honiggelben Augen widerspiegelt. Plötzlich schauen dieses eine strahlende Auge zu mir rüber. Ich fühle mich ertappt und schaue schnell in die andere Richtung. Auch er hat in Windeseile seinen Blick wieder nach vorne gerichtet. Peinlich. Ich hoffe er denkt jetzt, nicht dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt habe ... Auch wenn ich das in Wirklichkeit getan habe.

Nachdem die Stunde endlich vorbei ist, packe ich langsam meine Sachen ein. Nathaniel scheint das Selbe zu tun, zumindest wirkt es auf mich so. Der Rest beeilt sich, wie immer, um möglichst schnell nach Hause zu kommen.
"Viel Spaß!", flüstert Rosalia, während unserer Umarmung zum Abschied, mir ins Ohr.
"Danke!"
Sie verschwindet mit einem breiten Grinsen aus dem Raum. Es ist schon niedlich, wie sie sich für mich freut. Als ich noch einmal zurück auf meinen Platz schaue, entdecke ich dort noch einen meiner Stifte rumliegen. Ein Gähnen entwischt mir. Hin und wieder werde ich von einem Schultag echt müde, ich schlafe vermutlich einfach zu kurz. Ich nehme den Stift an mich und werfe ihn in meine Tasche. Als ich mich umdrehe, steht bereits Nathaniel, nur noch wenige Zentimeter entfernt, vor mir.
"Bist du bereit?", fragt er mich mit sanfter Stimme und einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
"J-Ja, wir können los gehen!"
Er geht vor und ich folge ihm auf Schritt und Tritt. Ein Schweigen entsteht, welches mich unbehaglich fühlen lässt.
"Danke übrigens, dass du mir hilfst!"
"Ach", winkt er ab und schaut zu mir zurück, "bedank dich lieber erst dann, wenn ich dir auch was beibringen konnte." Ein leises Lachen kommt aus ihm hervor, in welches ich mit einstimme und antworte: "Okay, mache ich."
Er verlangsamt sein Tempo und läuft neben mir her, bis wir bei der Bibliothek angekommen sind. Er öffnet sie mit einem Schlüssel und hält mir die Tür offen.
"Herein", grinst er. Ich mache einen Knicks vor ihm, als Dank, und trete ein. Er lacht daraufhin wieder und verschließt die Tür hinter sich.
"Warum schließt du ab?"
"Damit falls jemand, der nicht zur Schule gehört, nicht einfach Bücher mitnehmen kann. Vorschrift der Direktorin."
"Achso, verstehe."
Erneut gähne ich, während ich mich auf einen der Tische hinzu bewege. Ich nehme Platz und Nathaniel versetzt den Stuhl, der sich eigentlich gegenüber von mir befindet, quer neben mich.
"S-So kann ich dir besser Sachen erklären", fügt er stotternd zu seiner Tätigkeit hinzu, der ich mit meinen Augen gefolgt bin. Vermutlich dachte er, dass ich ihn sonst für zu aufdringlich empfinden könnte. Dabei ist es das genaue Gegenteil. Nachdem er sich hingesetzt hat, schlägt er das Mathebuch auf, dass er die ganze Zeit über schon getragen hat.
"Verrate mir, was genau du nicht verstehst."
"Um ehrlich zu sein ... So gut wie die ganze Vektorrechnung."
Er schaut mich mit großen Augen an. "Also nochmal ganz von vorne anfangen?"
"Wäre vielleicht besser", lache ich schief. Er blinzelt ein paar mal erstaunt, ehe er mir dann sein Lächeln schenkt.
"In Ordnung, ich habe Zeit!"
Er beginnt, sich die ersten Seiten dazu noch einmal schnell durchzulesen. Währenddessen schaue ich ihn an, mit einem Arm auf dem Tisch abgestützt und den Kopf auf meiner Hand abgelegt. Ein paar seiner blonden Strähnen fallen ihm während des Lesens ins Gesicht. Er könnte mir einen stundenlangen Vortrag über Vektorrechnung halten, ich würde ihm die ganze Zeit zuhören. Und wie er mir eben die Tür aufgehalten hat ... Er ist ein Gentleman aber auch witzig. Ich komme nicht ganz klar auf diesen Jungen. Mein Herz pocht ganz aufgeregt.
"Gut", beginnt er, "fangen wir an!"
Folglich erklärt er mir, wie man Vektoren addiert, subtrahiert und das Skalarprodukt ermittelt. Mehrere Male muss ich ihn erneut darum bitten, mir etwas zu erklären, da es mir nicht wirklich einleuchten will. Er ist aber sehr geduldig mit mir und seine sanfte Stimme, macht es angenehm, ihm bei solch, eigentlich uninteressanten, Dingen zuzuhören.
"Jetzt wenden wir das auf Ebenen an", verkündigt er. Ich nicke ihm zu und er schlägt die entsprechenden Seiten dafür auf.
"Bis jetzt scheinst du ja alles gut verstanden zu haben!"
Ich lächle ein wenig verlegen und nicke erneut.
"Du bist ein intelligentes Mädchen ..."
Auf diese Worte schaue ich ihm direkt in die Augen. Seine schauen zwischen meinen hin und her, wobei es so aussieht, als würde er erröten.
"A-Also", stammelt er, "wenn das so weiter geht, kann bei der Klausur nichts mehr schief gehen!" Er widmet sich schnell wieder den Buchseiten und geht sie durch. Ich kann mir mein Lächeln nicht verkneifen und versuche schnell an etwas anderes zu denken, als daran, dass er gerade gesagt hat, dass ich intelligent bin und mich daraufhin irgendwie so speziell angesehen hat. Vielleicht war es aber auch gar nicht so speziell und meine Gefühle steigern sich da in etwas hinein. Ich muss schon wieder gähnen, diesmal länger und kräftiger. Dabei drehe ich mein Gesicht in eine andere Richtung, damit Nathaniel es nicht so mitbekommt. Ich bin doch ziemlich müde mittlerweile. Das ist schlecht. Ganz schlecht! Er ist bereits dabei, mir zu erklären, was eine Drei-Punkte-Form ist und wie diese aussieht. Meine Konzentration nimmt von Minute zu Minute ein wenig mehr ab, das spüre ich deutlich. Ich würde es ihm am liebsten sagen aber andererseits will ich noch nicht von ihm weg. Auch wenn wir gerade nur über Mathe sprechen, mag ich es, mit ihm alleine zu sein. Es ist ein Zwiespalt!
"Ist alles in Ordnung?", reißt er mich aus meinen Gedanken raus. Besorgt schaut er mich an. Ich richte mich wieder auf, in eine gerade Haltung und lache: "Alles bestens!"
"Du scheinst mir erschöpft zu sein. Erkläre ich es dir nicht leicht genug?"
"Doch, doch. Fahr ruhig weiter fort."
"Okay ..."
Das tut er auch. Schließlich geht er dazu über, wie man aus einer Parametergleichung eine Koordinatengleichung macht. Mühsam versuche ich ihm zu folgen, bis er mir das Buch rüber schiebt und mich anlächelt.
"Versuch es einmal! Wenn du nicht weiter kommst, sag Bescheid."
"O-Okay."
Ich packe meinen Collegeblock und einen Stift aus, um mich an die Aufgabe zu machen. Währenddessen lernt Nathaniel für sich selbst weiter und macht ebenfalls ein paar Übungsaufgaben. Ich versuche mich mit aller Kraft zu konzentrieren, doch die Müdigkeit steigt. Wieder muss ich gähnen. Als ich mir die Aufgabe anschaue, merke ich, wie mir langsam die Augen zufallen. Ich könnte gerade hier und jetzt einschlafen. Es ist, als hätte ich eine Schlaftablette eingenommen und gerade fängt sie an, ihre Wirkung zu entfalten. Ich schreibe die Aufgabe ab und überlege, was ich als erstes tun muss. Ich schaue noch einmal zu Nathaniel, der so wirkt, als wäre er voll bei der Sache. Ich dagegen sehe ihn plötzlich nur noch verschwommen. Meine Augenlider fallen einfach so zu. Ich reibe mir die Augen, bevor ich sie noch einmal aufreiße, so als würde ich sie aufwecken wollen, doch es klappt nicht. Sie fallen weiterhin zu.
Schließlich gebe ich nach und schließe die Augen. Nur einen kurzen Moment will ich meine schweren Augen schließen, damit ich gleich weitermachen kann.
Nur ganz kurz ...

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt