26. In der Höhle der Löwen

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"Halt, stop!"
Kurz vor Unterrichtsbeginn werde ich in eine der dunklen Ecken, zwischen den Spinden, gezogen. Erschrocken drehe ich mich zu der Person um, die mich nicht sonderlich sanft am Handgelenk gepackt hat. Nathaniels böser Zwilling glitzt mich mit ihren grasgrünen Augen an. Ihre Augenfarbe erscheint mir blasser, als die von Kentin.
"Guten Morgen, hast du gut geschlafen?", frage ich sie mit einer Spur von Ironie. Ich darf es auch nicht übertreiben, schließlich ist es auch von ihr abhängig, ob ihre und Nathaniels Eltern mich mögen werden.
"Spiel nicht die Unschuldige!"
"Was ist denn los?"
"DU sollst also heute Abend zu uns kommen, ja?"
Ich nicke. Sie ist ganz rot, vor lauter Empörung darüber.
"Denkst du, du hast auch nur den Hauch einer Chance meinen Eltern zu gefallen? Ha! Glaub mir, da hast du dich geschnitten. Nicht solange ich da bin!"
Während ich ihr einen irritierten Blick widme, lacht sie nur gehässig vor sich hin.
"Können wir diese ständigen Zickeren nicht mal abschließen und vergessen?", seufze ich erschöpft.
"Das kannst du knicken!"
"Wirklich, Amber, ich habe keine Lust mehr auf diese Feindschaft."
"Interessiert mich das? NEIN!"
Wieder muss ich einen Seufzer rauslassen.
"Das hättest du dir vorher überlegen sollen, bevor du mit meinem Bruder zusammen gekommen bist!"
"Ich bin schon seit meinem ersten Tag hier nicht daran interessiert gewesen, mich immer wieder aufs Neue mit dir in die Haare zu kriegen."
"Bla bla bla", reagiert sie mit hin und her wackelndem Kopf, wie ein kleines Kind, "das wird bestimmt lustig heute!"
Sie will gerade gehen, da packe ich sie am Arm, um sie anzuhalten. Entsetzt dreht sie sich zu mir um.
"LASS LOS!"
"Amber, bitte! Mir liegt wirklich etwas an Nathaniel."
"Pech."
"Lass mir doch einfach die Chance heute Abend! Bitte!"
"Das kannst du ver-ges-sen!"
Mit einer ruckartigen Handbewegung reißt sie sich los und geht in Richtung Klasse. Ich sehe noch, wie sie ihr langes, blondes, gelocktes Haar siegreich nach hinten wirft. Na toll. Ich könnte mich jetzt blutüberströmt auf die Knie vor sie werfen und sie würde nicht mal ein Stückchen Mitleid für mich empfinden.

Durch den bisherigen Unterricht war noch keine Zeit mit Nathaniel, über den anstehenden Abend, zu sprechen. Nun ist Mittagspause und wir kommen endlich dazu. Ich bin mir noch im Unklaren, ob ich ihm von heute Morgen erzählen soll.
"Komm, wir gehen an einen ruhigeren Ort", schlägt er vor.
"Das halte ich für keine schlechte Idee."
Wir gehen in eine hintere Ecke des Schulhofs und setzen uns auf die dort stehende Bank. Das Wetter heute ist angenehm, dafür dass es Oktober ist.
"Also", legt Nathaniel los, "es hat zwar ein wenig gedauert aber meine Eltern haben zugestimmt, dass du zu uns kommst. Besonders meine Mutter will sehen, was für einen Umgang ich pflege."
"Hört sich schon gut an ..."
Er erhebt meinen etwas gesenkten Kopf mit seiner Hand. Meine Augen treffen auf seine.
"Hey, wo ist dein Ehrgeiz von gestern Abend hin?"
Ich kann nicht anders, als schon wieder zu seufzen. Was ein anstrengender Tag bis jetzt.
"Lisa?"
"Ein wenig zertrampelt."
Er zieht eine seiner Brauen nach oben. "Wodurch?"
Jetzt habe ich bereits damit angefangen. Ich handel zu spontan ...
"Von ... Von deiner Schwester ..."
Seine Stirn runzelt sich.
"Sie hat mich heute Morgen abgefangen. Wenn es nach ihr geht, wird das heute Abend nichts."
"Erzähl mir alles!"
Gesagt, getan.
Folglich lässt er sich genervt zurück fallen. Sein Blick ist nach vorne gerichtet. Ich würde zu gerne wissen, was gerade in seinem Kopf vorgeht.
"Ich verstehe es echt nicht", sagt er und reißt mich damit wieder aus meinen Gedanken.
"W-Was denn?"
"Womit ich so eine Familie verdient habe ... Womit ich so eine Zwillingsschwester verdient habe!"
In seinem Ton liegen Wut und ein wenig Verzweiflung.
"Ich werde nochmal mit ihr sprechen, bevor du kommst, das verspreche ich dir!"
"In Ordnung ..."
Unerwartet packt er mein Gesicht und zieht es an sich, um mir einen festen Kuss auf die Lippen zu drücken. Meine zunächst noch offenen Augen schließe ich, um es besser genießen zu können.
"Sucht euch ein Zimmer", höre ich plötzlich jemanden sagen.
Auch Nathaniel ist das nicht entgangen. Er löst sich reflexartig von mir. Es ist Kentin gewesen, der bereits weitergeht. Nur seinem Rückenprofil können wir noch nachsehen, wie es sich immer weiter entfernt. Von Castiel erwarte ich so einen Spruch, von Kentin eigentlich nicht.
"Am liebsten würde ich ihm gerade hinterher gehen", knurrt Nathaniel und dreht sich in seine Richtung. Es sieht so aus, als wäre er auch nicht mehr weit entfernt davon, das zu tun. Ich halte ihn am Arm zurück.
"Nicht ..."
Sein Gesicht wendet sich wieder mir zu. Er schluckt einmal heftig. Anstatt ihm einen Grund zu nennen, warum er sich zurückhalten soll, lege ich eine Hand auf seine hintere Wange und gebe ihm auf die Vordere einen Kuss. Sein Gesicht ist ganz warm. Seine Haut so weich.
"Lisa ..."
Anschließend nehme ich seine Hand und stehe auf.
"Wir gehen jetzt ein bisschen rum und machen uns nicht weiter Sorgen! Es wird schon irgendwie alles gut gehen."
Sein entzückendes Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus. Er geht meinen Worten nach und steht ebenfalls auf.

Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt