Am nächsten Morgen wache ich mit leichten Kopfschmerzen auf. Ich habe nicht viel Schlaf gefunden, da ich einfach auf den gestrigen Tag nicht klar gekommen bin und auch noch viel zu aufgeregt war, wegen heute. Es ist bereits zwölf Uhr Mittags. Ich habe das Frühstück verpennt. Mühselig aufgestanden, begebe ich mich ins Badezimmer. Eine warme Dusche ist jetzt genau das, was ich brauche.
Nach dieser Erfrischung geht es mir schon gleich viel besser. Vorsichtshalber nehme ich nachher noch eine Kopfschmerztablette mit, damit ich mein Treffen mit Nathaniel auch voll und ganz genießen kann. Wo er mich wohl zum Essen ausführt? Es wäre lustig, wenn es einfach nur McDonald's wäre aber das wäre eher Castiels oder Armins Art, ein Mädchen einzuladen. Mit Castiel muss ich nächste Woche auch nochmal sprechen. Als würde es nicht reichen, dass er Nathaniel so derartig provoziert hat. Er hat auch noch mich in eine ganz schön scheiß Situation gebracht. Zum Glück konnte ich das aber wieder gerade biegen. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank, um zu überlegen, was ich anziehe. Da wir Eislaufen gehen, sollte ich mir besser einen Pullover anziehen. Ich nehme meinen hellblauen, oversized Strickpullover raus und wähle dazu meine stets passende schwarze Hose. Ein Paar Handschuhe nehme ich auch mit. Fertig angezogen, lege ich mich auf mein Bett und schnappe mir irgendeine Zeitschrift, die daneben rumliegt. Als ich sie angucke, springt mir direkt eine Überschrift ins Auge: 20 Tipps fürs erste Date. Früher habe ich mir wirklich sowas durchgelesen und dem Glauben geschenkt, im Endeffekt hat mich das dann viel zu sehr unter Druck gesetzt und das hat mich völlig aus dem Konzept gebracht. Ich hatte bisher zwei feste Freunde, meinen Letzten noch kurz bevor ich umgezogen bin und auf die Sweet Amoris gewechselt habe. Allerdings war ich noch nie so sehr an einem Jungen interessiert, wie an Nathaniel. Er ist wahrhaftig etwas ganz besonderes für mich. Ich werde heute versuchen, nicht so die rote Tomate raushängen zu lassen, die ich eigentlich bin. Wir haben uns geküsst. Ich sollte mir ein wenig Sicherheit deswegen einreden. Ich bin auch gespannt, ob sich heute herausstellt, ob wir ein Paar werden ... Bei beiden meiner Exfreunde habe ich diese Frage gestellt. Ich war immer zu ungeduldig. Diesmal aber reiße ich mich zusammen. Ich versuche es zumindest.Als es zwei Minuten vor halb Vier ist, klingelt es an der Haustür. Wie von einer Biene gestochen, stehe ich auf und will gerade runter rennen, da stoße ich mich mit dem Ellbogen am Geländer der Treppe. Ein hartnäckig, ziehender Schmerz setzt direkt ein. Ich halte die Stelle, an der ich mich gestoßen habe, fest. Jemand öffnet die Tür und ich höre meine Mutter sagen: "Oh, hallo! Du musst also Nathaniel sein."
"Ja, guten Tag. Es freut mich, Sie kennenzulernen."
"Charmant! Die Freude ist ganz meinerseits."
Sie lacht. Ich krümme mich noch vor Schmerz, versuche mich aber langsam wieder zu beruhigen.
"Ich rufe sie mal", kündigt sie an und setzt es in die Tat um, "LISAAA!"
Ich habe mich wieder gesammelt und renne noch schnell zurück in mein Zimmer, um meine Schuhe anzuziehen, meine Jacke und meine Tasche mitzunehmen. Das hätte ich doch alles glatt vergessen. Noch einmal tief durchatmen, ehe ich die Treppe runter gehe und schließlich meine Mutter und Nathaniel sehe. Er beginnt zu lächeln, als er mich erblickt. Als ich unten ankomme, gesellt sich mein Vater, vom Wohnzimmer aus, zu uns.
"Hallo", begrüßt er Nathaniel mit einer ernstzunehmenden, tiefen Stimme und hält ihm seine Hand hin. Nathaniel kommt ihm entgegen und schüttelt ihm diese, wobei er freundlich zurückbegrüßt: "Guten Tag. Ich bin Nathaniel."
Mein Vater mustert ihn prüfend. Ich sehe, wie Nathaniel einmal heftig schluckt. Es scheint ihn nervös zu machen. Schließlich nickt mein Vater.
"Einen festen Händedruck hast du, das ist gut", entgegnet er nur. Nathaniel lacht daraufhin leicht und bedankt sich dafür.
"Wollen wir los?", frage ich ihn.
"Natürlich. Hast du alles, was du brauchst?"
"Ja."
"Wann bist du wieder zuhause?", fragt meine Mutter mich.
"Bringst du sie nachhause?", fragt mein Vater Nathaniel.
"Auf jeden Fall", verspricht Nathaniel, "sicher ist sicher."
"Ich verlasse mich darauf."
Mein Vater geht wieder zurück ins Wohnzimmer. Währenddessen habe ich noch immer keine Uhrzeit im Kopf.
Nathaniel nimmt mir diese Aufgabe ab: "Heute Abend, um Acht, ist sie wieder bei Ihnen."
Meine Mutter lächelt ihn entzückt an. "Sehr schön! Dann wünsche ich euch beiden viel Spaß."
"Vielen Dank!"
"Danke, bis heute Abend", verabschiede ich mich und verlasse mit Nathaniel das Haus. Eigentlich wollte ich die erste Begegnung mit meinen Eltern vermeiden, weil ich keine Lust darauf hatte, dass sie mich nach unserem Treffen ausquetschen. Ich habe nur erwähnt, dass ich mich mit ihm treffe und das war für mich ausreichend. Trotzdem ist es reibungslos verlaufen, auch mein Vater schien kein Problem mit ihm zu haben. Nathaniels Manieren sind auch außerordentlich. Mich, als Elternteil, hätte er genauso um den Finger gewickelt. Das hat er aber auch so schon geschafft.
"Deine Eltern scheinen echt nett zu sein", reißt er mich aus meinen Gedanken.
"Das Selbe müssen sie nun auch von dir denken."
"Ich hoffe es", lacht er.
Die Sonne scheint und es weht nur eine leichte Brise. Ein wirklich angenehmer Tag, im Gegensatz zu gestern.
"Wie lange dauert es bis zur Eishalle?"
"Wenn wir zu Fuß gehen, zwanzig Minuten. Mit dem Bus zehn. Was ist dir lieber?"
Ich überlege kurz, doch dann steht es auch schon fest für mich: "Zu Fuß."
"In Ordnung. Das Wetter muss man auch ausnutzen."
"Eben!"
Sorgenlos gehe ich neben ihm her. Ich darf keine zu hohen Erwartungen an den heutigen Tag legen, ich möchte im Nachhinein nicht enttäuscht sein.
"Wie lief eigentlich die Klausur bei dir?", erkundige ich mich bei ihm.
"Sie fiel mir ziemlich leicht, um ehrlich zu sein. Bei dir? Ich hoffe meine kleine Nachhilfeeinheit hat dir etwas gebracht."
"Ganz okay. Ich kann das gar nicht wirklich einschätzen aber ich weiß, dass ich ohne dich ganz schön versagt hätte."
Er muntert mich auf: "Immerhin!"
"Es fiel mir ziemlich schwer, mich zu konzentrieren."
"Warum?"
"Wegen deiner Reaktion am Abend zuvor", lache ich nun leicht darüber. Nathaniel hingegen schaut beschämt in die andere Richtung.
"Oh ... Nein, nein", versuche ich ihn zu beruhigen, "ich wollte dir damit kein schlechtes Gewissen machen!"
Er sieht mich wieder an. "Ich habe mich wie ein Idiot benommen."
"Nun ja ...", lächle ich schief.
"Wenigstens bist du ehrlich."
Jetzt lacht er. Ich stimme in sein Lachen mit ein.
"Sag mal, Lisa ... Weißt du schon, welche Berufslaufbahn du später einmal einschlagen wirst?"
Ich schüttle mit dem Kopf. Zukunftsfragen sind ein Grauen für mich. Da merke ich immer, wie die Zeit knapper wird und ich mich langsam mal festlegen muss. Besonders Verwandte hacken da ständig nach, weswegen ich schon in Verzweiflung gerate, sobald Geburtstage oder andere Festtage anstehen.
"Aber ich habe einen Traumberuf", offenbare ich ihm, "und zwar Psychologin."
"Psychologin?" Seine Augen weiten sich, er macht einen erstaunten Eindruck.
"Ja, das wäre toll!"
"Warum wäre es das nur?"
"Dafür braucht man einen perfekten Schulabschluss ... 1,0 oder knapp darunter. Das ist ganz schön schwierig für mich, besonders wegen Fächern wie Mathe."
"Du hast recht, das ist schwierig. Aber nicht unmöglich, vergiss das nicht."
"Ich denke nicht, dass ich das schaffe. Mein Notendurchschnitt vom letzten Schuljahr lag bei 1,9 und dafür habe ich schon so hart gearbeitet ..."
Den Traum, Psychologin zu werden, habe ich schon vor einiger Zeit abgeschrieben.
"Ich verstehe", bekennt er und nickt. "Versuch es doch trotzdem, bitte. Du hast Potenzial, ebenso wie Ehrgeiz in dir. Ich helfe dir jederzeit, wenn du in irgendeinem Fach Schwierigkeiten hast - sofern es mir möglich ist, natürlich."
"Dir wäre das auf jeden Fall möglich", lache ich.
"Tust du mir den Gefallen und bleibst da dran?"
Ich überlege einen Moment. Sich wieder an etwas dranzusetzen, das man bereits aufgegeben hat, ist nicht gerade leicht. Seine honiggelben Augen strahlen und ein ermutigendes Lächeln ziert seine schönen Lippen. Wenn ich ihm das jetzt abschlage, stoße ich ihn vor den Kopf. Er hat aber auch recht damit, dass es nicht unmöglich ist. Ich bleibe stehen.
"Okay", antworte ich und halte ihm meinen kleinen Finger hin. Er macht Halt und schaut erst auf diesen, dann verwirrt wieder zu mir auf.
"Sag mir jetzt nicht, du kennst das nicht", warne ich ihn mit einem Grinsen. Seine Wangen verfärben sich leicht rot.
"Nein", gibt er verlegen zu.
Ich kichere. Sein Blick ist wirklich süß.
"Gib mir deinen kleinen Finger!"
"O-Okay ..."
Er hält ihn mir hin. Gegen seinen kleinen Finger ist mein Finger mikroskopisch. Ich lächle ihn an, während ich mit meinem kleinen Finger seinen umschließe und einmal hoch und runter mitziehe.
"Kleiner-Finger-Schwur", erkläre ich ihm, "deutlich mehr wert als ein bloßes Versprechen."
"Ich glaube, davon habe ich schon einmal gehört", antwortet er. Seine Augen sind noch immer auf unsere kleinen Finger ausgerichtet, die sich noch nicht voneinander getrennt haben.
"Du hast das noch nie gemacht?"
"Nein."
Ich ziehe meinen Winzling von Finger langsam wieder weg.
"Wow ..."
"Ich bin unter eigenartigen Umständen aufgewachsen."
Nathaniel geht weiter und ich hole ihn mit ein paar schnelleren Schritten wieder ein. Seine Beine sind schon beachtlich lang, ein Schritt von ihm sind zwei einhalb Schritte von mir. Er blickt in den strahlendblauen Himmel. Seine Mimik wirkt betroffen.
"Und was möchtest du beruflich einmal machen?", frage ich ihn mit heiterer Stimme.
"Erstmal Logistik studieren und dann auf diesen Bereich spezialisierter Abteilungsleiter in einem möglichst großen und erfolgreichen Unternehmen werden."
"Hört sich enorm an!" Ich kann mein Staunen darüber nicht im Zaum halten.
"Naja", bremst er meine Bewunderung, "das ist das, was mein Vater zur Zeit macht und er will, dass ich in seine Fußstapfen trete. Ihn sogar übertreffe."
Meine Reaktion wechselt zunächst in Verwunderung über, dann in Verständnis.
"Dein Vater scheint hohe Erwartungen an dich zu haben. Das erklärt deinen Fleiß in der Schule, stimmt's?"
Er nickt.
"Aber du meintest doch, dass du alle Tore offen haben willst, nach der Schulzeit. Das widerspricht sich ein wenig."
"Vielleicht ändert sich mein Vater ja eines Tages ..."
Es sieht so aus, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen, mit diesem Thema. Ich streiche ihm einmal sanft über seinen Arm, wobei ich seine Worte von vorhin wiederhole: "Unmöglich ist das nicht."
Seine Lippen formen sich zu einem breiten Lächeln. Strahlend sieht er mich an.
"Ich hatte ziemlich Glück."
Fragend neige ich meinen Kopf zur Seite und ziehe die Augenbrauen hoch.
"Dass jemand wie du, hierher gezogen ist und ich dich kennenlernen durfte."
Schlagartig setzt mein Herz für einen Moment aus. Ich habe das Gefühl, dass Nathaniel weiß, was mich freut und welche Worte er dafür wählen muss. Ich spüre, wie meine innere Tomate zum Vorschein kommt. Dabei wollte ich das heute verhindern oder zumindest unter Kontrolle kriegen. Nathaniel lächelt mich noch einmal erfreut an, ehe er wieder nach vorne sieht und in diese Richtung seinen Zeigefinger ausrichtet, damit ich seinem Blick folge.
"Da vorne ist es!", erkenne ich euphorisch.
"Ja!"
Ein kurzes, leises Lachen entwischt ihm. Das Gebäude ist größer, als in meiner Vorstellung. Aufregung kommt in mir auf, wenn ich daran denke, dass ich gleich wie ein frisch ausgeschlüpftes Küken mich auf dem Eis bewegen werde, wenn ich nicht gerade hinfalle.

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Der unnahbare Schülersprecher? | Sweet Amoris - Nathaniel FF [ABGESCHLOSSEN]
FanficLisa ist bereits seit einem Jahr auf dem Gymnasium Sweet Amoris. Sie hat sich eingelebt, neue und alte Bekanntschaften gemacht und gibt ihr bestes, gute Noten zu schreiben und somit einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen. Doch im neuen Schuljahr...