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Auf Zehenspitzen und sich nach allen Seiten umschauend schlich sie durch das Dorf. Noch war alles dunkel und ruhig, aber schon in paar Stunden würde die Sonne aufgehen und dem Dorf Leben einhauchen. Bis dahin würde sie zurück sein müssen.

Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch das Dickicht. Das Moos kitzelte an ihren nackten Füßen. Es fühlte sich kalt und glitschig an. Generell war es noch sehr kühl. Bald aber würde die Luft glühen und flimmern. Unter den Baumkronen würde eine unangenehme Feuchte herrschen. Sie hatte schon jung gelernt, dass die Tiere des Dschungels sich gerne zu Nachtzeiten herumtrieben, denn auch ihnen war die Hitze tagsüber zu viel. Deshalb war sie jetzt unterwegs, um sich ein paar dieser Tiere zu schnappen.

Zuerst sah das Mädchen nach den Fallen, die sie in der Nacht zuvor aufgestellt hatte. Und in einer hatte sich tatsächlich ein kleines Beuteltier verfangen. Es war klein und hatte weiches Fell, aber seine kleinen Knopfaugen waren trüb. Leise dankte sie dem Tierchen, dass es sein Leben gegeben hatte, um sie zu ernähren. So tat sie es immer, wenn sie etwas fing. So taten es alle Jäger. Sie tat es noch aus einem anderen Grund. Sie nahm es heraus, schnürte ihm die Beine zusammen und band es sich auf den Rücken. Dann richtete sie die Fallen neu und sah sich noch einmal aufmerksam um, ob ihr auch bloß niemand gefolgt war. Das, was sie hier tat, war nämlich alles andere als erlaubt. Doch als sie niemanden erblicken und hören konnte, rannte sie los.

Der Baum, an dem sie Halt machte, war keineswegs einfach zu erklimmen. Doch nach täglicher, oder besser nächtlicher Übung, war das Klettern kein Problem mehr für sie. Fast so schnell wie ein Affe stand das Mädchen mit den dunklen Locken auf dem niedrigsten Ast und hangelte sich weiter nach oben. In einem großen Astloch versteckt lagen ihr Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Die Blätter schob sie schnell zur Seite, dann holte sie das wertvolle Werkzeug heraus. Ehrfürchtig strich sie über die Schnitzereien; das war zu einem Ritual geworden. Der Bogen gehörte ihrem verstorbenen Vater, der ihn ihr am Sterbebett vermacht hatte. Er hatte ihr beigebracht, damit umzugehen, obwohl das Jagen mit dem Bogen in ihrer Kultur nur den Männern vorbehalten war. Ihr Vater hatte die Stammesregeln oft als zu streng angesehen. Leider lebte er nun genau deshalb unter den Geistern.

Eine Träne fiel auf das glatte Holz in ihrer Hand. Unwirsch wischte sie sich über die Augen. Sie durfte nicht weinen, sie brauchte Konzentration und einen klaren Kopf, wenn sie heute noch etwas erlegen wollte. Schnell war der Bogen über den Kopf gezogen, der Köcher hing über der Schulter. Aus dem Astloch zog sie sogar noch ein kleines Steinmesser und einen Strick aus Bananenblattfasern. Diese würde sie später brauchen, um die getroffenen Tiere besser transportieren zu können.

Zuerst bedeckte sie das Loch wieder mit Ästen und Blättern, dann sprang sie auf den Ast unter ihr. Eine Liane hing vor ihr und sie ergriff sie, nahm Anlauf und schwang sich in die Luft. Das Mädchen landete geschickt auf dem weichen Waldboden, nachdem sie an der Liane hinuntergerutscht war. Sie sah sich um, lauschte. Ein Rascheln, nur ganz leise, erregte ihre Aufmerksamkeit. Langsam und die Knie gebeugt schlich sie in Richtung des Geräuschs. Hinter einem Busch erkannte sie ein kleines Säugetier, das auf einer Lichtung stand und auf dem Boden nach Essen suchte. Ein Paka. Es war kleines Tier mit rotbraunem Fell und großen schwarzen Knopfaugen.

Ihr tat es natürlich leid, ein Tier töten zu müssen, aber es war nun einmal notwendig. Also sprach sie erneut ihr Stoßgebet, bevor sie den Pfeil in den Bogen spannte und anlegte. Mit einem kaum hörbaren Sirren zischte der Pfeil auf das Paka zu und traf es in der Brust. Es stieß erschrocken einen lauten Schrei aus, dann fiel es um und blieb reglos liegen. Ein guter Treffer.

Sie ging auf das Tier zu, sah dann aber, dass es noch leicht atmete. Doch nicht so sauber. Um dem Paka einen qualvollen Tod zu ersparen, zückte sie ihr Steinmesser und erlöste es von seinen Qualen. Sie säuberte das Messer, dann band sie dem Paka die Füße zusammen und hängte es zu dem Beuteltier auf ihren Rücken.

Am Ende der Lichtung entdeckte sie einen Paranussbaum. Es war noch ein relativ junger Baum, also würde es nicht so schwer werden, hinauf zu klettern. Er trug viele Früchte und kurzerhand kletterte sie schon hinauf. Warten, dass die Früchte runterfielen, wie die anderen Frauen im Dorf es sonst taten, wenn sie Beeren und Früchte sammeln gingen, wollte sie nicht. Dafür hatte sie keine Zeit. Obwohl das eigentlich ihre richtige Aufgabe war. Nüsse und Früchte sammeln, Yams und Süßkartoffeln ernten, Sago zubereiten und kochen. Was eine Frau eben tat. Aber das machte doch alles keinen Spaß. Viel spannender war der Nervenkitzel beim Bogenschießen, das Warten, ob der Pfeil sein Ziel auch traf. Und das Kämpfen. Sich gegen gefährliche Tiere verteidigen zu können, war lebensnotwendig, da wo sie wohnte. Sie verstand einfach nicht, warum Frauen das nicht auch erlernen sollten.

Seufzend stieg sie den Baum wieder hinunter, die Paranussfrüchte hatte sie in ein Noken gepackt. Das war ein Netz, das zum Sammeln benutzt wurde und aus getrockneter Baumrinde hergestellt wurde. Mit einem schnellen Blick zum dichten Blätterdach konnte sie erahnen, dass es langsam hell wurde. Zeit, zurück zu gehen, bevor jemand ihr Fehlen bemerkte.

Ihren Bogen versteckte sie wieder in dem hohlen Baum, dann machte sie sich auf den Weg zurück ins Dorf. Noch war niemand wach, das war ihr Vorteil. Flink huschte sie über den runden Dorfplatz zu ihrer Hütte, wo sie mit ihrer Mutter und ihren zwei kleinen Geschwistern wohnte. Die Hütte befand sich auf der Ostseite des rund angelegten Dorfes. In der Mitte war der Dorfplatz, rundherum befanden sich die Hütten der Dorfbewohner. Sie schlüpfte mit geducktem Kopf in die Hütte, dann zog sie sich schnell den Lendenschurz aus Leder von den Hüften und stieg in ihren Rock aus Sagoblättern. Den Schurz versteckte sie unter ihrer Schlafmatte. Dann machte sie sich leise daran, das Frühstück zu zubereiten. Sie musste ja den Schein wahren.

Denn niemand durfte je erfahren, dass das Mädchen mit den wilden Locken nachts im Dschungel auf die Jagd ging.

Amazona GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt