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"Kinder! Was ist passiert?" Kari kam mit gebauschtem Rock auf Taya und Cyr zu, als sie sie entdeckte. Taya schwitzte nicht schlecht, denn Cyr konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.

"Klapperschlange", stieß Tayanara schnaufend aus. Das sonst so große Mädchen verschwand fast unter dem Körper des kranken Cyrs. All sein Gewicht lastete auf ihr.

"Kommt schnell mit. Ich hole meine Sachen." Kari eilte voraus, und Taya schleppte Cyr weiter. Zum Glück waren alle auf den Feldern und im Wald. Cyr stöhnte. Schweißtropfen rannten über seine Schläfen. Sein Arm hatte mittlerweile eine dunkelrote Färbung angenommen und war angeschwollen.

Kr kam wieder angelaufen. In ihrer Hand hatte sie verschiedene Kräuter und Blätter, unter den Arm geklemmt, ein paar Streifen weiches Leder. Tayanara ließ Cyr zu Boden gleiten, sein Kopf schlug etwas zu hart auf den Boden.

"Ahh.", stöhnte er.

"Entschuldige."

"Cyr, gib mir deinen Arm", sagte Kari. Sie war die Schamanin des Dorfes, eine Heilerin und Kräuterfrau. Deshalb musste sie nun schnell handeln. Das Gift hatte sich vermutlich schon im halben Arm ausgebreitet. Hoffentlich war er noch zu retten und er würde seinen Arm nicht verlieren. Sie sah sich seinen Arm genau an und bewegte ihn leicht. Taya sah, wie er die Zähne zusammenbiss und drückte seine Hand. Er drückte zurück, und zwar mit solch einer Kraft, dass es weh tat. Er musste wirklich große Schmerzen haben.

"Was ist denn passiert?", fragte Kari. Taya sah sie erschrocken an. Karis Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich über Cyrs Arm beugte. Unwirsch strich sie sich hinter das Ohr. Ihr schwarzes Haar war schon von grauen Strähnen durchzogen. Auch Falten zierten ihr Gesicht, aber trotzdem sah Kari noch jung aus. Wie alt sie wirklich war, wusste Taya nicht. Sie hatte sich bisher nie getraut zu fragen.

Taya wusste nicht, was sie auf Karis Frage antworten sollte. Wenn sie es so wiedergab, wie es passiert war, konnte das leicht falsch verstanden werden. Ihr selbst war die Nähe, die vorhin zwischen ihr und Cyr geherrscht hatte, unangenehm und peinlich.

"Ähm... Wir haben herumgealbert und dann ist er aus Versehen gestolpert und hingefallen. Wie aus dem Nichts kam dann sie Schlange und hat ihn gebissen. Er hat sie mit seinem Messer getötet, aber es war schon zu spät.", umschrieb Taya die ganze Geschichte. Sie merkte, wie Cyr sie trotz seiner Schmerzen, von denen er eigentlich abgelenkt sein müsste, schief ansah. Er hatte gehört, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber sie konnte die Wahrheit nicht erzählen. Kari wäre sicher entzückt zu hören, dass sie sich endlich annähern würden, obwohl dem gar nicht so war. Und schneller würde die Hochzeit eingeleitet sein, als sie das Missverständnis aufklären könnte.

"In Ordnung. Es war gut, dass du ihn schnellstmöglich zu mir gebracht hast. Ich hoffe, ich kann noch etwas retten.", sagte Kari und nickte. Sie schien die Geschichte zu glauben. Aber so schlecht war Taya im Lügen gar nicht.

"Wie bitte?!", schrie Cyr auf, als er Karis Worte hörte.

"Nein, Cyr. Es ist alles gut. Halb so wild. Du wirst schon wieder gesund.", versuchte Kari ihn zu beruhigen. "Hier. Iss das." Damit steckte sie ihm einige Samen in den Mund. Es waren Samen von der Copaiba, die dafür sorgten, dass Cyr sich beruhigte und dass seine Schmerzen erträglicher wurden. Sobald er sie zerkaut hatte, wurde er ruhiger.

"Wo ist denn-? Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe nicht genügend Anamu! Tayanara, lauf und hol mir einen Busch Anamu, damit ich das Gift aus seinem Arm bekomme.", wies Kari sie an. "Vor allem die Wurzeln. Du weißt, wo du das findest?" Nur ungern kam Taya ihrem Befehl nach, sie ließ sich nicht gerne herumkommandieren, aber man widersetzte sich keinem älteren Stammesmitglied. Sie nickte, stand auf und hörte, wie Kari tief die Luft einzog.

"Tayanara! Leg das sofort nieder!" Es dauerte einen Moment, bis Taya verstand, dass sie Cyrs Bogen und Pfeile noch um den Körper trug. Das Gefühl war ihr mittlerweile so vertraut.

Doch sie gehorchte. Legte beides fein säuberlich neben Cyrs Kopf. Drehte sich um, um die Pflanze zu holen, die Kari ihr aufgetragen hatte.

"Wir sprechen uns, wenn du zurück bist. Und jetzt beeile dich gefälligst."

Tayanara war wütend. Richtig wütend. Was hatte Kari denn für ein Problem? Sie musste doch einsehen, dass es nur eine Notlösung gewesen war. Sie verstand einfach nicht, was daran so schlimm war, den Bogen in der Hand zu halten. Schließlich war es doch offensichtlich, dass Cyr ihn nicht allein hatte tragen können. Zornig schlug sie einen Ast, der ihr auf Gesichtshöhe war, mit den Arm weg. Die Dornen hatte sie nicht gesehen, aber das Brennen auf ihrem Arm half, dass ihre Wut ein wenig nachließ. Sie rannte schneller und ihr Weg führte sie an den einzigen Ort, von dem sie wusste, dass Kari ihre "Anamu" daher hatte. Als sie kleiner war, hatte sie sich sehr für Kräuter und Heilkunde interessiert, die einzige "Frauenarbeit", die ihr Spaß gemacht hatte, bis es von ihrer Passion für den Bogen und die Jagd abgelöst worden war. Aber sie wusste noch genau, was Anamu war. Es war ein kleines Gewächs, nicht mehr als kniehoch, mit spitzen, haarigen Blättern und weißen Blüten. Kari verwendete es, um Gelenkschmerzen, oder eben Schlangenbisse zu behandeln.

Sie rannte in Richtung des Amazonas. Der große, wilde, gefährliche und heilige Fluss. Er war eine wichtige Quelle des Lebens der Waldbewohner. Die Männer, nur die Erfahrensten, gingen dort auf Krokodiljagd. Hätten die Menschen im Regenwald gewusst, was ein Hühnchen ist, so konnte man den Geschmack des Fleisches genau damit vergleichen.

Von weitem konnte sie schon den Fluss rauschen hören. Und dann kam er endlich in Sicht. Die Grillen zirpten, Frösche quakten und Wasserläufer huschten über die dahinfließende Oberfläche des Amazonas. Tief zog Tayanara die Luft ein. Es roch ein wenig modrig, aber das war kein Wunder, wenn die Sonne heiß auf das dreckige Wasser schien.

Zielstrebig lief Taya auf das Ufer zu und fand ganz in der Nähe ein kleines Feld mit Anamu. Das Mädchen zog ihre kleine Machete, die sie immer bei sich trug, hervor und suchte sich eine dicke Wurzel. Dann holte sie aus und... hielt inne. Was war das für ein Geräusch? Sie lauschte angespannt. Da war es schon wieder, ein tiefes Röhren, so unnatürlich, dass Taya wusste, dies konnte kein Tier sein.

Sie ließ die Pflanze los und ging näher zum Amazonas. Tayas größtes Problem war ihre Neugier. Sie wollte unbedingt wissen, was sich hinter dem Geräusch verbarg. Vielleicht war es ja gefährlich, dann musste sie dem Oberhaupt Bescheid sagen. Sie war hin und her gerissen. Cyr brauchte die Heilpflanze für seinen Arm so schnell wie möglich. Anderseits konnte dieses Geräusch, neu und unbekannt, eine Bedrohung für sie und ihr Volk darstellen. Ihr Blick suchte schon einen Weg über den Fluss.

'Cyr braucht aber die Anamu', hallte eine Stimme durch ihren Kopf. Und diese hatte Recht. Taya riss sich zusammen und schnitt eine Handvoll Blätter mitsamt der Wurzel ab. Ein zwiebelartiger Geruch stieg auf, und Taya erinnerte sich daran, dass diese Pflanze auch die blutsaugenden Geister fernhalten konnte. Dann trat sie den Rückweg an. Das Röhren wurde leiser, je weiter sie sich entfernte und irgendwann verstummte es ganz.

Sie fragte sich, was es wohl war. Es war kein tierischer Laut, da war sie sich ganz sicher. Aber sonst lebte nichts anderes im Regenwald, dem sie so abstrakte Laute hätte zuordnen können. Die anderen Stämme, die auch im Regenwald lebten, konnten es genauso wenig sein. Sie lebten in der anderen Richtung. Sie war wirklich unglaublich neugierig. Sie beschloss, später den Ursprung des komischen Geräusches zu erkunden. Sie hatte sowieso jagen gehen wollen. Wieso nicht gleich etwas Neues entdecken? Denn Taya liebte Neues. Sie liebte es neue Dinge zu entdecken und mehr über sie zu erfahren.

Später würde sie also über den Amazonas gehen und sich ansehen, was sich da versteckte. Später, wenn es dunkel wurde und sie niemand vermissen würde. 

Amazona GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt