12.- Erinnerungen

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Mir war ganz schwummrig, als ich von dem Stuhl aufstand. Ich taumelte etwas und wäre fast gefallen, doch glücklicherweise hielt mich Ryan noch.

»Lass mich... Ich kann allein gehen.«, nuschelte ich leicht angetrunken. Ich wette, der Alkohol, den ich getrunken hatte, war noch weniger als eine Flasche Bier. Doch er reichte, damit ich lief, als wäre mir gerade eine fette Kuh auf den Fuß getreten.

»Bist du blöd, Ryan?« Ich war wirklich sauer auf ihn, während er sich einen ablachte. »Ich...ich konnte ja nicht wissen, dass... dass du so wenig Alkohol verträgst. Hast du denn noch nie etwas getrunken?«, fragte er zwischen mehreren Lachanfällen.

Ich schnaubte verächtlich und warf ihm tötende Blicke zu.
»Ne. Wie soll ich jetzt bitte nach Hause kommen? Ich kann ja schlecht Fahrrad fahren.«

Immer noch lachend zog mich Ryan aus dem Lärm und Gestank. »Ich hab doch gesagt, dass du das zurückbekommst.« War das sein Ernst? Ich meine, was Besseres ist ihm nicht eingefallen?

Vor dem Haus atmete ich tief die Luft ein. Oh man, mein Kopf brachte mich noch um. Er führte mich Richtung Garten. Dort standen einige Fahrräder und sein großes, schwarzes Motorrad.
Ryan ging auf die Maschine zu und hielt vor

»Da fahr ich immer noch nicht mit!«
»Wer hat denn gesagt, dass du diesmal mitfährst?« Provozierend grinste er mich an. Blöder Sack!

»Du hast mich volllaufen lassen, also musst du mich auch wieder nach Hause bringen.«, beharrte ich. Wäre der Alkohol nicht in meinem Blut, wäre ich natürlich nie so mutig gewesen, sowas zu sagen, aber ich hoffte, ich hatte es morgen eh schon wieder vergessen.

»Tja, dann musst du wohl oder übel auf mein Motorrad steigen.«
Seufzend wog ich die Möglichkeiten ab. In der Kälte, alleine durch dunkle Gassen zu laufen und das auch noch angetrunken oder mit Ryan, meinem Erzfeind kurz auf einer Höllenmaschine zu fahren.

Obwohl die zweite Möglichkeit die weitaus bessere und beruhigendere war, zweifelte ich.
Doch letztendlich setzte ich mich hinter Ryan, der schön warm war, obwohl er keine Jacke anhatte.
»Willst du dich nicht vielleicht festhalten?«, fragte er irgendwann. Ich regte mich nicht.

Plötzlich nahm er meine Arme und legte sie um seine Hüften. »Festhalten, Nerd.« Kurz darauf startete er den Motor und brauste los. Hatte er denn gar keinen Helm dabei?

+++

Als er endlich vor unserer Haustür stand und das ohrenbetäubende, laute Ding ausschaltete, war es gerade mal kurz vor zehn.

Ich griff in meine Handtasche und stellte fest, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Zum Glück war meine Mum niemand, der vor zwölf Uhr schlafen ging. Ich drückte auf die Klingel und sah wie das Licht im Flur anging. »Du kannst jetzt gehen, danke fürs Fahren.«, antwortete ich kurz, in der Hoffnung, Mum würde ihn heute gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Doch er blieb stur stehen. Ich schaute ihn auffordernd an, aber nichts. »Du wirst mich nicht so schnell los. Ich gehe, wenn ich will. Solltest du das nicht langsam begriffen haben?« Erschrocken über seinen harschen Tonfall, ging ich einen Schritt von ihm weg und die Tür öffnete sich. Meine Mum stand in ihrer Jogginghose und irgendeinem alten T-Shirt Lässig an der Tür.

»Avery? Warum bist du denn schon wieder da?« Ich räusperte mich und hoffte, sie würde nicht weiter darauf eingehen. Sie war zwar in allem ziemlich cool, aber dass ich mit Alkohol abgefüllt wurde, musste sie nun auch nicht unbedingt wissen.

»Oh und du hast Ryder mitgebracht.« »Ryan.«, verbesserte ich sie schnell. Dann fiel ihr Blick auch noch auf Ryan's Motorrad. Könnte es noch schlimmer kommen?

»Seit ihr etwa damit nach Hause gefahren?«, frage sie fassungslos. Beschämt blickte ich auf den Boden. Auch Ryan schien sich nicht mehr ganz so wohl zu fühlen.

»Weißt du, Avery. Dein Dad hatte früher auch so eine Maschine. Wir haben uns immer heimlich raus geschlichen und haben dann Runden auf dem Feld gedreht.« Sie schaute verträumt auf das Ding, während ich meinen Ohren nicht traute. Ich hätte ja mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Dad so selbst auch so ein Ding hatte.

»Aber kommt doch erstmal rein.«, sagte sie und ehe ich mich versah, zerrte sie Ryan am Arm nach drinnen. »Bleibt da, ich bin gleich zurück.«, rief sie und drückte uns auf die Küchenstühle. Was sollte das bitte werden?

Ryan begann zu lachen und sah sich um, auch wenn er das beim letzten Mal, als er da war, sicher schon getan hatte.

»Was?«, fragte ich. »Nichts. Deine Mum ist einfach cool. Ich wünschte manchmal, meine wäre auch so.« Ich lächelte. Ich glaube es war das erste Mal, dass er ehrlich und aufrichtig mir gegenüber war.

»Wieso? Wie ist sie denn?«
»Geht dich nichts an.« Wie vor den Kopf gestoßen beobachtete ich, wie sein Gesicht wieder ernster und sein Blick kälter wurde.
»Tut mir ja leid, dass ich gefragt habe. Aber weißt du, kalt zu sein und alle Menschen von dir wegzustoßen, macht es auch nicht besser.« Wütend wendete ich meinen Blick ab. So ein Vollidiot. Und ich dachte noch, er könnte sich mal normal verhalten.

»Da bin ich.«, erschreckte mich Mum. Fröhlich setzte sie sich zu uns an den Tisch. Sie hielt ein altes Fotoalbum in der Hand. Sie schlug es auf und legte es vor uns. »Das war im College, wo Michael und ich uns kennengelernt haben.«, erklärte sie. »Und das ist sein Motorrad.« Mum zeigte auf ein Bild mit einer schwarzen Maschine, die zwar älter aussah, als Ryan's, aber trotzdem angsteinflößend wirkte.

Als sie umblätterte, entdeckte man ein Bild, wo die beiden mich auf dem Arm hielten. Ich konnte eine Träne nicht zurückhalten. Es tat immer noch weh, die Bilder zu sehen. Dann stellte ich mir immer die Frage, wie es wäre, wenn er noch da wäre.

Natürlich wusste ich, dass es Schlimmeres gab, als seinen Vater zu verlieren, aber trotzdem war es für mich Etwas, das dem Schlimmsten sehr nahe kam.

Meine Mum sah, dass es mir nicht gut ging, klappte das Album deswegen zu und brachte es weg. »Tut mir leid.«, antwortete sie.

Ryan sah mich mitleidig an. Wusste er etwa, dass mein Vater tot war? Ich hatte eigentlich gehofft, dass es nur Mrs. Smith wusste.

Meine Mum kam wieder und lächelte mich traurig an.
»Ich sollte dann vielleicht gehen.«, sprach Ryan in den Raum herein. »Auf Wiedersehen, Mrs. Mackenzie.« »Nenn mich ruhig Sarah.« Sie lächelte ihn an und ich brachte ihn zur Tür. »Ciaó.«, meinte er. »Bye.«

Ich sah noch, wie er auf sein Motorrad stieg und losfuhr, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

The lost Diary  #WattyCompetitonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt